Erlösung und Moderne. Händels „Messiah“ zwischen dem späten 18. und dem 21. Jahrhundert
Halle (Saale), 31.05.-02.06.2021
Von Christoph Kellermann, Halle (Saale) 17.08.2021 | Die dreitägige wissenschaftliche Konferenz war der Aufführungs-, Bearbeitungs- und Wirkungsgeschichte jenes Oratoriums gewidmet, das wie kein zweites Werk die Weltgeltung Georg Friedrich Händels begründet hat. Veranstaltet von der Internationalen Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft, in Kooperation mit der Stiftung Händel-Haus Halle und der Abteilung Musikwissenschaft am Institut für Musik, Medien- und Sprechwissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, gliederte sich die digital durchgeführte Konferenz in sieben Sektionen und umfasste insgesamt 15 Referate von Forscherinnen und Forschern aus Deutschland, Österreich, Japan, Südafrika, Barbados, Großbritannien und den USA.
Nach der Begrüßung und Einleitung durch Wolfgang Hirschmann (Halle) konzentrierte sich das Referat Karl Friedrich Ulrichs (Berlin) auf „Händels Messiah in evangelischer Predigt“, wobei die möglichen Verwendungsweisen der Musik Händels als Darstellung und Vermittlung des biblischen Textes erörtert sowie die theologischen und ästhetischen Potenziale dieses Oratoriums für die gegenwärtige Predigt dargelegt wurden.
Den Vorwurf, dass Charles Jennens’ Messiah-Libretto aus antijudaistischen Beweggründen entstanden sei, suchten die Referate der zweiten Sektion zu entkräften. Marybeth Hauffe (Wuppertal) stellte in ihrem Vortrag „O Thou That Tellest Good Tidings to Zion: Can a Rashi Variant be Antisemitic?“ diese Deutung in Frage, indem ihre Analyse der Arie zeigte, dass der Text seit über 2000 Jahren mit jüdischen Bibelübersetzungen und -kommentaren übereinstimmt. Stephen Nissenbaum (Underhill) wies auf die Notwendigkeit einer Neubewertung kanonischer Werke hin, warnte jedoch zugleich vor Interpretationsfehlern, die aus der Projektion heutiger Vorstellungen auf die Vergangenheit resultieren („Rejoicing against Whom? Charles Jennens, Michael Marissen, Zadok the Priest, and the Hallelujah Chorus“).
In der dritten Sektion orientierte Yasuko Kawamura (Tokio) über die Bedeutung des Messiah in der Weihnachtskultur des modernen Japan sowie den historischen Prozess der Akzeptanz und Etablierung des Werkes im 20. Jahrhundert („On the acceptance of Messiah in Japan“). Martin Elste (Berlin) erörterte „Händels Messiah als Weltmusik“ anhand des Einflusses ästhetischer Wandlungen durch auditive und audiovisuelle Medien auf die Rezeption des Werkes, während David Vickers mit seiner Untersuchung der umfangreichen Messiah-Diskografie aus 40 Jahren ein kritisches Verständnis der verschiedenen Ansätze der historischen Aufführungspraktiken und forschungsgestützter künstlerischer Ideen zu vermitteln suchte („Their Sound is gone out into all Lands: period-instrument recordings of Messiah, 1980–2020“).
Den Quellen zur frühen Händel-Rezeption in Italien waren die Referate der vierten Sektion gewidmet: Juliane Riepe (Halle) versuchte den Entstehungskontext der 2019 von der Stiftung Händel-Haus erworbenen, bislang unbekannten Messia-Partitur mit einer frühen italienischen Bearbeitung des Werkes anhand einer Zusammenfassung aller bisher bekannten Informationen zur Partitur zu rekonstruieren („Il Messia. Eine neue Quelle zur frühen Händel-Rezeption außerhalb Großbritanniens“). Livio Marcaletti (Wien) orientierte anhand von Johann Simon Mayrs Bearbeitung über die Wirkung des Messiah auf das italienische Publikum sowie das für Händels Musik charakteristische Klangbild im Norditalien des 19. Jahrhunderts („Johann Simon Mayrs Il Messia – ein frühes Beispiel italienischer Rezeption des Messiah“).
In der fünften Sektion wurden anhand zweier Beispiele künstlerische Auseinandersetzungen mit Händels Oratorium außerhalb Europas thematisiert. Rebekka Sandmeier (Kapstadt) stellte den African Messiah (1992) des afrikanischen Komponisten Tunde Jegedes vor und erörterte, wie Händels Messiah durch diese Neu-Komposition in einen postkolonialen, afrikanischen Kontext gestellt wird („Ein Messias aus Afrika: Tunde Jegedes African Messiah“). Stefan Walcott (Barbados) erläuterte in „Handel’s Caribbean Messiah: The Global Handel“ seine eigene Interpretation als Synthese von Volks- und Popmusik aus der angloamerikanischen, hispanischen und frankophonen Karibik mit dem traditionellen Oratorium Händels und diskutierte die Frage nach der Authentizität seines Werkes.
Die sechste Sektion begann mit einem Beitrag von Malcolm Bruno (Glasfryn) zur Messiah-Bearbeitung durch Wolfgang Amadeus Mozart. Anhand einer Untersuchung der Eingriffe von Gottfried van Swieten zwischen 1789 und 1803 unterbreitete Bruno Vorschläge zur Rekonstruktion von Mozarts Bearbeitung für eine neue kritische Ausgabe („MESSIAS=MESSIAH 1789–1803“). Colin Timms (Birmingham) zeigte anschließend anhand des Chores „For unto us a child is born“ die komplizierte Beziehung zwischen Text und Musik in Händels Werken und erörterte, weshalb der Einsatz von Ironie in Händels Opern und Oratorien mehr Aufmerksamkeit verdient als bisher („Words, Music and Irony in Handel“).
In der abschließenden Sektion fokussierten die Referate die Aufführungsgeschichte des Messiah im England des 19. Jahrhunderts. Luke Howard (Provo) orientierte über parallele und konkurrierende Aufführungstraditionen, die in den Jahren vor der Gründung der Händel-Festspiele entstanden, um besser zu verstehen, wie die Festspiele den Ruf des Messiah für den Rest seiner Rezeptionsgeschichte veränderten („Handel’s Messiah in London and the Provinces, 1840–1857: Setting the Stage for the Handel Festivals“). Florian Csizmadia (Stralsund) gab einen Überblick „Zur Rezeption des Messiah im Viktorianischen Zeitalter“ und erläuterte die zunehmende Abkehr der Aufführungen von Händels originaler Werkgestalt sowie das Aufkommen der ersten substanziellen Kritik der zeitgenössischen Kürzungspraxis. Graydon Beeks (Claremont) untersuchte die Aufführungshinweise Sir George Smarts zur Sopran-Solostimme in der Messiah-Partitur für Jenny Lind, um zu klären, ob sie die Praktiken von Händels Sängern oder Smarts eigene Vorstellungen widerspiegeln und wie sie Jenny Linds Image als Oratoriensängerin prägten („Sir George Smart’s Advice to Jenny Lind on Performing Messiah“).
Insgesamt dokumentierte die Folge der Beiträge nicht nur die Sonderstellung des Messiah unter den Werken Georg Friedrich Händels. Sie verdeutlichte zudem auch den scheinbar unendlich breit gefächerten Kanon von Forschungs- und Interpretationsansätzen, welcher die Einzigartigkeit von Werk und Komponist begründet.
Die Beiträge der Konferenz sowie der diesjährige Festvortrag von Andreas Waczkat (Göttingen) zum Thema „Held und Erlöser. Christusbilder in den Oratorien von Georg Friedrich Händel bis Friedrich Schneider" erscheinen im Händel-Jahrbuch 2022.