Translation, Interpretation, Adaptation. Music Between Latin America and Europe 1920 to 2020
Heidelberg, 06.-08.10.2021
Von Gracia Llorca Llinares und Tim Reichert, Tübingen – 10.12.2021 | Die vierte International Conference of Trayectorias wurde in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hybrid realisiert, wodurch Teilnehmer:innen aus Europa und Lateinamerika online teilnehmen konnten. Die Mitglieder des Trayectorias-Netzwerks moderierten die einzelnen Abschnitte der Tagung. Die Organisatorin, Christina Richter-Ibáñez (Tübingen), eröffnete die Konferenz mit einer etymologischen und semantischen Untersuchung der Begriffe „Translation“, „Interpretation“ und „Adaptation“ am Beispiel von Johann Sebastian Bachs Musikalischem Opfer BWV 1079 und dessen weltweiter Verarbeitung in verschiedenen Medien und Künsten.
Die Keynote von Isabelle Marc (Madrid) diente als Einführung in die Thematik der Übersetzung von Musik. Marc erläuterte aus ihren Arbeiten zu „travelling songs“ entlehnte Konzepte wie „cultural reception“, „musical reprise“, „interlingual cover versions“ und „stylistic emulation“ am Beispiel „Despacito“ von Luis Fonsi und seinen verschiedenen Varianten. Die darauffolgenden Vorträge lieferten weitere Beispiele für die Übersetzung von Popularmusik und bildeten zusammen den ersten thematischen Block. Julio Ogas (Oviedo) präsentierte die kulturelle Übersetzung der Musik von Waldo de los Ríos in Spanien. Alicia Pajón (Oviedo) verglich die Unterschiede zwischen den englischsprachigen Liedern von The Platters und ihren spanischen Versionen von Los Cinco Latinos. Jesús Herrera (Xalapa) stellte die verschiedenen Versionen des Liedes „Johnny Get Angry“ von Joanie Sommers mit dem Fokus auf ihre interlingualen Übersetzungen vor. Rosalía Castro Pérez (Oviedo) untersuchte in ihrem Vortrag vier verschiedene Versionen des portugiesischen Lieds „Construçao“ von Chico Buarque und den Einfluss der verwendeten Übersetzungsstrategien auf die Rezeption. Kathrin Engelskircher (Mainz) wendete die Konzepte der intra-, inter- und transsemiotischen Übersetzung auf die Beatles an. Die darauffolgende Diskussion behandelte die Themen „Tribute-Band“ und „Stilinspiration“. Abner Pérez (Paderborn) untersuchte das Ensemble „La Fuente“ und die Salsa-Bar „Isla de Cuba“ daraufhin, wie sie im Konzept der transkulturellen Kommunikation einzuordnen seien und welche Übersetzungs-, Interpretations- und Adaptationsstrategien Salsa in Deutschland erfahre. Der Workshop mit Sydney Hutchinson (Berlin) hatte die Form einer teils szenischen Lesung, in die einige Tagungsteilnehmer:innen einbezogen wurden und in der das Publikum den Übersetzungsprozess von Made in Saturn von Rita Indiana miterleben konnte.
Im Themenbereich „Politisches Lied“ präsentierte Stefano Gavagnin (Venedig) verschiedene Versionen und Übersetzungen von Violeta Parras „Gracias a la vida“ und warf die Frage nach der Qualität und Unabhängigkeit der Versionen vom Original auf. Ádám Ignácz (Budapest) untersuchte die lateinamerikanische populäre Musik im sozialistischen Ungarn der 1950er bis 1980er Jahre.
In der Abschlussdebatte des ersten thematischen Blocks diskutierten die Teilnehmer:innen die Rolle der Musiklabels bei der Veröffentlichung der Versionen von übersetzten Liedern und die ökonomischen Interessen dahinter. Sie wiesen auf die Notwendigkeit hin, die historischen und politischen Kontexte der betreffenden Länder genauer zu kennen, um diese Versionen besser zu verstehen. Diplomatie müsse daher im Hinblick auf populäre musikalische Genres weiter erforscht werden.
Zur Eröffnung des zweiten thematischen Blocks „Art Music, Translation and Self-Translation“ stellte Ranier Guldin (Lugano) in einer Keynote die Übersetzungs- und Selbstübersetzungspraxis des Medienphilosophen und Medienwissenschaftlers Vilém Flusser vor. Mauricio Gómez Gálvez (Paris) hielt einen Vortrag zum Prozess der Selbstübersetzung am Beispiel der Komposition Alter ego von Patricio Wang. Bei der anschließenden Diskussion lag der Schwerpunkt insbesondere auf den wechselnden Instrumentierungen und deren Auswirkungen. Iván César Morales Flores (Oviedo) verglich zwei aus unterschiedlichen Zeitperioden stammende Stücke, beide mit dem Titel Bembé: eines von Alejandro García Caturla aus dem Jahr 1929 und eines von Louis Aguirre aus dem Jahr 2008. Beide wählten auf ihre eigene Weise einen westlich zeitgenössischen Ansatz, um die afrokubanische Musiktradition fortzusetzen. Zum Thema Oper präsentierte Omar Corrado (Buenos Aires) die argentinische Oper Liederkreis von Gerardo Gandini und untersuchte die musikalischen Zitate von Schumanns Liedern und Klavierstücken in diesem Werk. Außerdem thematisierte er die Zweisprachigkeit der Oper und deren Beziehung zu dem Film Esas cuatro notas von Rafael Filipelli. Dabei wurde deutlich, dass jede Interpretation oder Adaption einen weiteren Kreis um den Schumannschen Kern darstellt und vorherige Deutungen einschließt. Martín Liut (Buenos Aires) analysierte das Übersetzungsnetzwerk von vier argentinischen Opern: Aliados von Sebastián Rivas, Kamchatka von Daniel D’Adamo, Avenida de los Incas 3518 von Fernando Fiszbein und Cachafaz von Oscar Strasnoy in Anlehnung an die Vermittlungssoziologie. Liut ging auch auf die unterschiedliche Rezeption dieser Opern durch Publikum und Kritiker aus Argentinien und Frankreich ein. Judith Romero Porras (Paris) führte die verschiedenen kulturellen Bearbeitungen der Oper Murmullos del Páramo des mexikanischen Komponisten Julio Estrada in deutsche, spanische und japanische Kontexte vor und analysierte sie. Daniela Fugellie (Santiago de Chile) analysierte mehrere lateinamerikanische serielle Kompositionen und ging der Frage nach, wie Kompositionstechniken übersetzt werden können. Dabei müssten Wissenschaftssprache und Terminologie stets reflektiert werden. Pablo Ernest Jaureguiberry (Rosario) sprach über die Trilogie Suiseki von Jorge Horst. Unter Anwendung verschiedener Konzepte wie Transtextualität, intrasemiotische und intersemiotische Übersetzung und „borrowing“ analysierte er die Einflüsse, die Wiederverwendung und die Bearbeitung musikalischer Elemente von Luigi Nonos Liebeslied. In der darauffolgenden Diskussion erörterten die Teilnehmer:innen die Verknüpfung von Avantgarde-Musik mit politischen Ideen der Revolution. So assoziiere man in Chile anders als in Europa den Serialismus mit der Linken und der kommunistischen Partei.
Der dritte thematische Block widmete sich historischen Prozessen der 1930er bis 1950er Jahre. Gabriela Rojas Sierra (La Habana) analysierte die Rolle der Franziskaner bei der Bewahrung der baskisch-navarresischen nationalen Identität in Havanna unter dem Gesichtspunkt eines musikalischen Übersetzungsprozesses. In der Diskussionsrunde wiesen die Teilnehmer:innen auf die Notwendigkeit hin, die Geschichte der Musik und der Kirchen in Kuba zu rekonstruieren, die seit 1959 in Vergessenheit geriet oder verschwiegen wurde. Bernardino Rodríquez Espejos (Mexico) stellte abschließend auf der Grundlage einer Analyse von brieflichen und phonographischen Dokumenten den klassischen Gitarristen Andrés Segovia als Übersetzer des Werks Variations sur „Folía de España“ et fugue von Manuel M. Ponce vor. Er betonte die Rolle der künstlerischen Anliegen des Gitarristen für die Kompositions-, Interpretations- und Editionsprozesse des Stückes.
Die Abschlussdiskussion zeigte, dass weiterhin genauer definiert werden müsse, was unter „Übersetzung“ zu verstehen sei, um über den Prozess und die Arten von Interpretation und Adaption im Bereich der Musikwissenschaft treffend sprechen zu können. Nicht zu vergessen sei dabei, dass Musikübersetzungen und Bearbeitungen durch praktische Anforderungen bedingt seien, zum Beispiel Erwartungen des Publikums und verfügbare Instrumente. Der Blick auf die vielseitige Verwendung des Begriffs „Übersetzung“ in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen eröffnete neue Blickwinkel auf den Musiktransfer zwischen Lateinamerika und Europa im Rahmen dieser multidisziplinären Tagung.