Beethoven and the Piano: Philology, Context and Performance Practice
Lugano, 4.-7.11.2020
Von Claudio Bacciagaluppi, Bern – 02.03.2021 | Gegen Ende des Beethoven-Jubiläumsjahres befasste sich die Tagung zur Aufführungspraxis und Philologie der Klavierwerke Beethovens mit einem Kernbereich seines Schaffens. Die inhaltliche Konzentration hatte die angenehme Folge, dass lebendige Diskussionen unter den Teilnehmenden stattfanden – was in einer vollständig online durchgeführten Veranstaltung nicht selbstverständlich ist. Ursprünglich hätte die internationale Tagung nämlich vom 4. bis zum 6. November 2020 am Conservatorio della Svizzera Italiana in Lugano stattfinden sollen. Im Jahr der Pandemie waren die Organisator*innen jedoch schließlich gezwungen, sämtliche Präsentationen über Videokonferenz abzuhalten.
Der wichtigste rote Faden war die Frage, welche aufführungspraktischen Hinweise für Beethovens Klavierkompositionen entweder aus seiner Notation oder aus den Eigenschaften der ihm bekannten Tasteninstrumente gewonnen werden können. Der Eröffnungsvortrag von Christine Siegert (Beethoven-Haus Bonn) – krankheitshalber erst am letzten Tag gehalten – erinnerte daran, wie Beethoven in seinen Klavierkompositionen enzyklopädisch musikalisches Wissen reflektiert, indem er in vielen Kompositionen oft über die Grenzen des Instruments hinaus auf verschiedene Gattungen, andere Instrumente und zeitlich oder geographisch auseinanderliegende Stile verweist. Und tatsächlich kann die Grundfrage auch anders formuliert werden: Auf welche musikalische Konvention will Beethoven hinweisen, wenn er eine gewisse Passage auf eine ganz bestimmte Weise notiert?
Barry Cooper (University of Manchester) diskutierte diese Frage in Bezug auf die Notation des Pedals in Beethovens Werken, basierend auf der entsprechenden Bestandsaufnahme in der Dissertation von Chi-Fang Cheng. In einer höchst differenzierten Darstellung zeigte Cooper Beethovens eigenen Beitrag in einer Zeit des Wandels der Notationskonventionen: Welche Zeichen sind gebräuchlich, ab wann wird Pedalisierung überhaupt notiert, und auf welche gängige Praxis wird implizit verwiesen, wenn eben keine Zeichen in den Noten stehen? Marten Noorduin (University of Oxford) spürte mit einem beeindruckenden Reichtum an Beispielen aus sämtlichen Gattungen und Epochen des Beethoven’schen Schaffens die möglichen Bedeutungen von Ausdrucksbezeichnungen wie dolce, espressivo und cantabile auf, insbesondere ihre Implikationen für die Tempogestaltung. Zwei weitere Referenten lieferten ebenfalls wichtige Beiträge zum Verhältnis zwischen Agogik und Dynamik: Yew Choong Cheong (UCSI University Institute of Music, Kuala Lumpur) führte aus, wie gewisse dynamische Zeichen – Crescendo- und Decrescendo-Gabeln sowie Sforzando-Zeichen – abhängig von ihrem Kontext eine eindeutige agogische Vorschrift bedeuten können. Leonardo Miucci (Hochschule der Künste Bern) beschrieb verschiedene Arten, wie Beethoven ein Rubato notiert, u. a. mit der Bezeichnung diminuendo und mit dynamischen Gabeln, ein Vorgang, den Miucci „hybride Dynamik“ nennt. Die Wiedergabe von Crescendo- und Diminuendo-Gabeln auf einer Einzelnote oder auf zwei Noten erscheint auf dem Klavier eigentlich unmöglich, kann jedoch u. a. auch als Verweis auf Gesangstechnik verstanden werden. Als Verweise auf die Aufführungspraxis eines anderen Instruments hat Siân Derry (Royal Birmingham Conservatoire) die rätselhaften Legato-Bögen bei Notenpaaren auf derselben Tonhöhe gedeutet, die vielerorts in Beethovens Notation für Klavier auftauchen. In Derrys überzeugender Interpretation sollen sie nicht die Bebung auf dem Clavichord, sondern das Bogen-Tremolo auf Streichinstrumenten nachahmen. Um das Verhältnis von Klavier und Streichinstrumenten ging es auch im Beitrag von Clive Brown (Universität für Musik und darstellende Kunst Wien), der die zeitgenössischen Spielgewohnheiten als „Subtext“ in den Violinsonaten op. 47 und op. 96 untersuchte. Insbesondere legte Brown den Akzent auf die damals zu erwartenden Freiheiten des Interpreten, die in der Terminologie der Zeit mit dem Unterschied zwischen technisch „richtigem“ und ästhetisch „schönem“ Vortrag beschrieben wurden. Auf die Freiheiten des Interpreten kam auch Dorian Komanoff Bandy (McGill University, Montreal) zu sprechen, der notierte Verzierungen Beethovens mit ähnlichen Stellen in Werken Haydns und Mozarts verglich und die Verzierungspraxis als ein Element der Tradition, wenn nicht der bewussten Rückschau, identifizierte. Neal Peres da Costa (University of Sydney) brach eine Lanze für die Arpeggierung von Akkorden (nach gewissen gut bekannten kontextuellen Regeln), die heutzutage entgegen der klaren Beweislage immer noch zu wenig verwendet wird. Zur Unterstützung seiner Ausführungen verwendete Peres da Costa insbesondere die Beethoven-Editionen von Carl Czerny und Cipriani Potter, aber etwa auch die Mozart-Aufnahmen von Carl Reinecke.
Einer besonderen Erwähnung bedarf der herausragende Vortrag von Sandra Rosenblum (Emerita, Concord Academy), mit 93 Jahren die Doyenne der historischen Aufführungspraxis am Klavier. Sie analysierte die handschriftlichen Notizen in zwei faszinierenden Quellen aus ihrem Privatbesitz: in einem Exemplar der Originalausgabe des Quintetts op. 16 mit den Anmerkungen von Aristide Farrenc zur Vorbereitung seines Pariser Nachdrucks und in einem weiteren Exemplar desselben Werks mit den Veränderungen und Verzierungen einer ambitionierten, wenn auch wohl nicht professionellen Pianistin oder eines Pianisten, die oder der nur mit den Initialen „AHL“ bekannt ist.
Eine zweite Gruppe von Beiträgen widmete sich der Instrumentenkunde. Michael Ladenburger (vormals Beethoven-Haus Bonn) zeigte die überwältigende Vielfalt an Instrumententypen, die dem jungen Beethoven in Bonn zumindest potentiell zur Verfügung standen – Clavichorde, Orgeln, Tangenten- und Hammerflügel verschiedener lokaler und fremder Instrumentenbauer aus damaligen Bonner Privathaushalten. Tilman Skowroneck (Universität Göteborg) wies auf die besondere Mechanik für das Heben der Dämpfer hin, die in einigen Flügeln von Anton Walter zu finden ist. Die Hebung der Dämpfer erfolgt dort mit einem geteilten Kniehebel, wobei das rechte Knie die Dämpfer bei den oberen (dreifachen) Saiten hebt, das linke Knie die Dämpfer über die gesamte Tastatur. Skowroneck beschrieb die aufführungspraktischen Folgen dieses Mechanismus bei der Interpretation von Beethoven’schen Klavierwerken bis hin zu op. 53. Zwei Beiträge waren Beethovens Erard-Flügel gewidmet. Robert Adelson (Conservatoire de Nice) zeigte überzeugend, dass die Firma Erard den Flügel tatsächlich als ein Geschenk für Beethoven vorgesehen hatte. Dabei stützte er sich auf die Schreibweise von Geschenken in den Rechnungsbüchern der Firma: mit einem Soll, dem kein Haben entgegensteht. Die Transaktion steht im Zusammenhang mit Erards Ausgabe der Sonate pathétique op. 13, denn es war keine Seltenheit, berühmte Autoren des Verlags mit Instrumenten zu beschenken. Tom Beghin (Orpheus Instituut, Gent) analysierte aus der Sichtweise des Fortepianisten die für den Erard-Flügel geschriebene Sonate op. 53. Mehrere Stellen deutete er als kreative Explorationen der klanglichen Möglichkeiten französischer Mechanik. In seinem analytischen Beitrag beschäftigte sich auch Martin Skamletz mit Beethovens kompositorischer Auseinandersetzung mit den Entwicklungen im Instrumentenbau seiner Zeit. Die Erweiterung der Tastatur im oberen Register hat insofern Folgen auf die Struktur der Komposition, als gewisse Tonfolgen (z. B. F-Fis-G in früheren kammermusikalischen Werken und G-Gis-A in der Sonate op. 53) als „Gesten der Überschreitung“ konnotiert werden können.
Einige weitere Beiträge waren hauptsächlich der Philologie der Klavierwerke gewidmet. Mario Aschauer (University of Texas, Huntsville) untersuchte die verschiedenen Quellen für die Diabelli-Variationen, von den Skizzen über das Autograph zu den revidierten Stichvorlagen (fremder Hand), und schlug eine Art der Edition vor, die nicht zwischen Varianten entscheidet, sondern gerade ihre Unterschiede als Schlüssel des Zugangs zur kompositorischen Denkweise des Meisters auffasst. Susanne Cox beschäftigte sich mit dem Status einer besonderen Kategorie von Musikautographen: den „composing scores“ zwischen Skizze und Reinschrift. Vermutlich war es diese Art von Niederschrift, die Beethoven als „Concept“ bezeichnete und die durchaus bereits bei Verlagen zirkulieren konnte. Etwas abseits vom Thema der Tagung betrachtete Claudio Bacciagaluppi (Hochschule der Künste Bern) Hans Georg Nägelis Eigenart als Schweizer Musikverleger: Aus der Not seiner peripheren Stellung eine Tugend machend, ließ er seine wichtigsten Verlagsprodukte in Paris herstellen, versuchte dort Beethoven und andere deutsche Komponisten zu verkaufen und nutzte seine guten Verbindungen nach Mailand, um das dort produzierte (Instrumental)repertoire nördlich der Alpen zu vertreiben.
Zum Abschluss der Tagung fand ein Roundtable statt, bei dem Thomas Gartmann (Hochschule der Künste Bern), Claudio Toscani (Università degli Studi di Milano), Clive Brown und Barry Cooper sich unter der fachkundigen Diskussionsleitung von Douglas Woodfull-Harris (Bärenreiter Verlag, Kassel) über druckfrische Bucherscheinungen und Buchprojekte sowie über Strategien der Herausgeberschaft für künftige Musikausgaben mit dem Publikum unterhielten.
Im Gegensatz zu den wissenschaftlichen Vorträgen konnten die beiden geplanten Konzerte in Lugano stattfinden und wurden vom Radio della Svizzera Italiana aufgenommen, um sie später auszustrahlen. Am 4. November bestritt Olga Pashchenko am Fortepiano ein beeindruckendes Beethoven-Programm, von zwei der Kurfürstensonaten bis zu den Bagatellen op. 126, und am folgenden Tag führte Leonardo Miucci mit dem Ensemble Zefiro Mozarts Klavierquintett mit Blasinstrumenten KV 452 und Beethovens op. 16 in der gleichen Tonart und Besetzung auf – ebenfalls auf historischen Instrumenten. Erwähnenswert sind die Konzerte allein deshalb, weil sie viele der in der Tagung diskutierten Fragen der Aufführungspraxis unmittelbar praktisch veranschaulichten. Eine Publikation der Beiträge ist in der Reihe „Musikforschung der Hochschule der Künste Bern“ beim Argus-Verlag in Schliengen vorgesehen.