Orgelpredigten in Europa (1600–1800). Musiktheoretische, theologische und historische Perspektiven
Regensburg, 16.-18.05.2019
Von Simon Hensel und Janosch Umbreit, Regensburg – 24.11.2019 | Das DFG-Projekt „Deutsche Orgelpredigtdrucke zwischen 1600 und 1800 – Katalogisierung, Texterfassung, Auswertung”, seit 2016 unter der Leitung von Katelijne Schiltz am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Regensburg beheimatet, hat das Ziel, das bislang weitgehend unbeachtete Corpus an Orgelpredigtdrucken im deutschsprachigen Raum zu sichten, zu edieren und im Rahmen eines Online-Portals öffentlich zugänglich zu machen. Drucke von Predigten, die im Zeitraum zwischen 1600 und 1800 im Rahmen der Einweihung einer Orgel gehalten und im Folgenden veröffentlicht wurden, bieten nicht nur eine überaus nützliche Quelle, anhand derer sich die Geschichte einzelner Orgelwerke nachverfolgen lässt. Sie geben darüber hinaus wichtige Einblicke in den zeitgenössischen Diskurs über den Einsatz von Instrumenten und Figuralmusik im Gottesdienst – eine konfessionell geprägte Debatte, die vor allem zwischen lutherischen und reformierten Theologen geführt wurde.
Die Tagung in den Räumlichkeiten der Hochschule für katholische Kirchenmusik in Regensburg zielte darauf, das Forschungsprojekt einem breiteren wissenschaftlichen Publikum vorzustellen, die Gattung Orgelpredigt von verschiedenen musikwissenschaftlichen und theologischen Perspektiven aus zu diskutieren und sie in einem weiter gefassten internationalen Kontext zu betrachten. Daher nahmen nicht nur Musikwissenschaftler teil, sondern auch Referenten aus der Geschichtswissenschaft und der Theologie, die aus Deutschland, den Niederlanden, Dänemark, Schweden, Frankreich, Polen und den USA anreisten.
Bei einer Führung durch den hauseigenen Orgelbestand durch den Rektor der Hochschule, Stefan Baier, konnten Nachbauten historischer Instrumente besichtigt und ausprobiert werden. Baier trug darüber hinaus auch zum musikalischen Begleitprogramm der Tagung bei. So spielte er zum Abschluss des ersten Tages in der Minoritenkirche Orgelmusik des 17. Jahrhunderts. Begleitet wurde das Konzert durch Lesungen aus Orgelpredigten, die einst den Komponisten der Werke gewidmet worden waren. Die Vorträge des ersten Tages dienten der Vorstellung des Forschungsprojektes durch dessen Mitarbeiter. Lucinde Braun (Regensburg) gab den Tagungsteilnehmern einen Überblick über Gegenstand (Quellenbestand und -überlieferung, Autoren der Predigten) und Zielsetzungen (Edition, Kommentar) des Projekts, während Fabian Weber (Regensburg) in einer Präsentation durch die Datenbank führte und die Fragestellungen und Probleme beleuchtete, die im Zuge ihrer Gestaltung zu bewältigen waren. Katelijne Schiltz beschloss die erste Sitzung mit einem Vortrag über den Wert der Gattung Orgelpredigt als Quelle für musiktheoretische Fragestellungen. Sie unterstrich dabei den Aspekt des Wissenstransfers und der Popularisierung allgemeinen musikalischen Wissens, das von den Pfarrern auf der Kanzel oder über den Druck der Predigt an einen großen Adressatenkreis vermittelt werden konnte.
Der zweite Tag bestand aus zwei thematischen Blöcken, deren erster sich musiktheoretischen und theologischen Aspekten widmete. Sven Rune Havsteen (Kopenhagen) begann mit einer Betrachtung von Christopher Fricks Music-Büchlein (1631) als Beispiel lutherischer Musiktheologie im 17. Jahrhundert. Fricks Werk stellt als Musiktraktat, der aus zwei Orgelpredigten entwickelt wurde, eine Besonderheit im Textcorpus des Projekts dar. Im Anschluss präsentierte Raymond Dittrich, Leiter der Proskeschen Musikabteilung der Bischöflichen Zentralbibliothek in Regensburg, einen Überblick über allegorische und theologische Ausdeutungen von Orgelregistern und -bauteilen, wie sie in vielen der aufgenommenen Predigten zu finden sind. Diese ergänzte Dittrich durch weitere Beispiele aus deutscher barocker Literatur. Der Theologe Martin Arneth (München) beschäftigte sich mit Psalmexegesen in Orgelpredigten und analysierte den dort aufgrund seiner Erwähnung von Musikinstrumenten besonders beliebten Psalm 150. Frank Kurzmann (Hamburg) beendete den ersten Block mit Überlegungen zur Wertschätzung von Musik in Orgelpredigten und leitete damit zum zweiten Block über.
Die zweite Sektion hatte die Orgelpredigt als (musik-)geschichtliche Quelle zum Thema und wurde von dem Historiker Philip Hahn (Tübingen) eröffnet, dessen Vortrag die Veränderungen in der Ulmer Kirchenmusikpraxis durch die Reformation und ihre Folgen in den Blick nahm. Vor diesem Hintergrund betrachtete er Conrad Dieterichs Vlmische Orgel Predigt (1624), die nicht zu einer Orgelweihe verfasst worden war, sondern dazu diente, die Bedeutung der Musik im evangelischen Gottesdienst zu begründen. Joachim Kremer (Stuttgart) beschäftigte sich anhand von Johannes Münstermanns Christlicher Orgel-Predigt (1665) mit der Musik, die anlässlich der zugehörigen Weihe 1662 in der Otterndorfer Severikirche erklang, während der Musikwissenschaftler Franz Körndle (Augsburg) Conrad Feuerleins Schuldiges Lob Gottes (1696) in den Kontext der Nürnberger Orgeltradition setzte, wobei er neue Dokumente zur Baugeschichte der Instrumente auswerten konnte. Den letzten Vortrag des Tages hielt der Germanist Piotr Kociumbas (Warschau), der mit seinem Fokus auf Danzig als Zentrum der Orgelpredigt im polnischen Preußen bereits einen Vorgeschmack auf die Vorträge des Folgetags gab, die sich mit Predigten außerhalb des deutschsprachigen Raums beschäftigten. Abgerundet wurde der Tag durch ein Konzert des Barockorchesters Rubio der Universität Regensburg mit dem Neuen Kammerchor der HfKM unter der Leitung von Arn Goerke in der an die Hochschule angeschlossenen Andreaskirche. Wiederaufgeführt wurden zwei Orgelweihkantaten von Johann Gottfried Müthel (1728–1788) und Gottfried August Homilius (1714–1785).
Der letzte Tag widmete sich der Orgelpredigt im europäischen Raum. Zu Beginn gab die amerikanische Musikwissenschaftlerin Sarah Davies einen Überblick über Orgelpredigten in Großbritannien und in Amerika im 17. und 18. Jahrhundert, wobei sie die im Vergleich zur deutschen Praxis auffallende politische Instrumentalisierung der Texte hervorhob. Matthias Lundberg (Uppsala) widmete sich zwei Predigten aus Linköping (1733) und Tryserum (1746) sowie einer deutschsprachigen Predigt von Christoph Wilhelm Lüdeke zur Deutschen Kirche in Stockholm (1780), mit welcher er eine Brücke zum Katalog des Forschungsprojektes schlug. Der Organist Jaap Jan Steensma (Utrecht) beschäftigte sich ebenfalls mit einer Predigt aus seiner Heimat und setzte Nicolaas Schinsels Inweydings Predikatie (1787) in den Kontext der niederländischen Orgeltradition. Den Abschluss der Tagung bildete ein Vortrag von Jean-Marc Leblanc (Tours), der die Entstehung erstmals auch katholischer Orgelpredigten im Frankreich des 19. Jahrhunderts skizzierte, ein Phänomen, das zum einen durch die Blüte des französischen Orgelbaus, zum anderen durch die bedrängte Situation der Kirche in einem laizistisch geprägten Staat bedingt war.
Mit ihren Beiträgen lenkte die Tagung den Blick auf ein noch wenig beachtetes Feld. Frühneuzeitliche Orgelpredigten werden – wie auch andere theologische und homiletische Textsorten – in den letzten Jahren zwar verstärkt von Wissenschaftlern als Quellen in ihre Forschungen einbezogen. Die Tagung zeigte jedoch, wie sich aus solchen punktuellen Zugängen ein größerer Zusammenhang herausbilden lässt, der die Grundzüge einer weitgehend einheitlichen, christlich geprägten Musikanschauung beleuchtet, wie sie für das Musikleben in großen Teilen Europas lange Zeit prägend gewesen ist.