Works, Work Titles, Work Authorities: Perspectives on Introducing a Work Level in RISM
Mainz, 09.-11.05.2019
Von Chantal Köppl, Mainz – 22.09.2019 | Ein erstes „Ideen-Mapping“ wollte die internationale Tagung sein, zu der die Zentralredaktion des Répertoire International des Sources Musicales (RISM) gemeinsam mit der Akademie der Wissenschaften und der Literatur sowie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) eingeladen hatte. Die derzeit im Pilotprojekt erprobte Implementierung einer Werkebene in RISM gab den Anlass dazu, die Anforderungen an deren Einführung in der Community zur Diskussion zu stellen. MusikwissenschaftlerInnen, BibliothekarInnen sowie WissenschaftlerInnen aus Informationseinrichtungen, Forschungs- und Editionsprojekten aus Europa und Amerika folgten dem Aufruf der RISM Zentralredaktion und stellten an drei Tagen ihre Bedarfe bezüglich eines zu entwickelnden Werknormdatensatzes aus der entsprechenden Arbeitspraxis heraus vor.
Die große Herausforderung der Tagung bestand folglich zunächst darin, eine gemeinsame fach- und institutionsübergreifende Diskussionsgrundlage zu schaffen und gewissermaßen den „Status quo“ der Überlegungen um work authorities in den jeweiligen Disziplinen festzumachen. Dabei brachten die in Themenblöcken gebündelten musik-, bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Beiträge eine beachtliche Bandbreite verschiedener fachspezifischer und institutionell bedingter Interessen, Perspektiven und Herangehensweisen zutage, deren Inhalte mittlerweile auch auf der RISM-Website zum Nachhören bereitstehen.
Nach der Begrüßung der TagungsteilnehmerInnen durch Gabriele Buschmeier (Akademie der Wissenschaften) und Klaus Pietschmann (RISM Board of Directors, Universität Mainz) boten Klaus Keil und Stephan Hirsch (RISM Zentralredaktion) einen ersten Überblick über die derzeit im System enthaltenen Daten und deren Struktur sowie über die mit der Werkebene und mit der Einführung von work identifiers verbundenen Ziele und Workflows. In den darauffolgenden drei Sektionen hatten die Vertreter verschiedener Bibliotheken Gelegenheit dazu, die Funktionsweise und Anwendungsgebiete von Normdaten in ihren jeweiligen Arbeitsumgebungen zu beschreiben und dabei insbesondere auf das Potenzial von Normdaten für (musikalische) Werke einzugehen.
Dem kamen als erste Constanze Schumann und Jürgen Kett (Deutsche Nationalbibliothek) mit ihrem Referat zur Ontologie der Gemeinsamen Normdatei (GND) und die dort seit 2012 enthaltenen Werktitel („Werke der Musik“, wim) nach. Der Beitrag hatte zugleich die Funktion, die für die Diskussion relevanten Fachtermini der bibliographischen Erfassung einzuführen. Caroline Shaw (The British Library) konzentrierte sich auf die unterschiedlichen Definitionen des „Werkes“ innerhalb des bibliothekarischen und des musikwissenschaftlichen Kontextes und die zu dessen Abbildung innerhalb einer Ontologie notwendige Abstrahierung. An diese Schnittstelle anknüpfend, erläuterten Kevin Kishimoto (Stanford University) und Trina Thompson (Independent Scholar, USA), welche Herausforderungen im Zusammenhang einer adäquaten Abbildung von Werken in mehreren Fassungen, von Bearbeitungen, erhaltenen Skizzen und musikalischen Zitaten – kurz, von Werken mit verschiedenartigen Relationen – bestehen. Mit der dritten Sektion, die primär Einblicke in die Möglichkeiten und Grenzen von Erschließungsmodellen, -ontologien, bibliographischen Datenformaten und die zur Erfassung von musikalischen Werken herangezogenen Regelwerke gab, schloss dieser erste Themenblock. Maria Teresa Delgado Sánchez (Biblioteca Nacional de España) ging auf die lange Tradition von Katalogisierungsregelwerken an der BNE und auf die dort implizierte Standardisierung von Titeln musikalischer Werke ein. Einen Vergleich des 2017 veröffentlichten IFLA Library Reference Model (IFLA LRM) mit dem Regelwerk zur Katalogisierung Resource Description and Access (RDA) nahmen Maria Aslanidi und Michalis Stefanidakis (Ionian University, Corfu) vor dem Hintergrund der Anwendbarkeit auf Werkentitäten und die Darstellungen von Werkrelationen vor. Zuletzt stellte Nancy Lorimer (Stanford University Libraries) die Datenmodelle Functional Requirements for Bibliographic Records (FRBR) und Bibliographic Framework (BIBFRAME) gegenüber, um insbesondere die musikalische Werkmodellierung in BIBFRAME näher zu erläutern, an dessen Erweiterung die Stanford Library derzeit mitarbeitet.
Bevor die Gelegenheit bestand, die bis zu diesem Punkt präsentierten Ideen innerhalb von „Expertengruppen“ in einem zweistündigen Workshop zu diskutieren, hoben Katrin Bicher, Andrea Hartmann und Sylvie Reinelt in ihrem Bericht von der Erprobung der GND-Normdaten zu „Werken der Musik“ in Projekten der SLUB Dresden insbesondere das Potenzial von Werknormdaten mit hoher Anschlussfähigkeit, sowohl für die bibliothekarische als auch für die fachspezifisch-wissenschaftliche Arbeit, hervor. Auf dieser Basis beschrieben sie mögliche und notwendige Konsequenzen für die Implementierung einer Werkebene in Muscat, der Erfassungssoftware von RISM.
Auch in den darauffolgenden Vorträgen wurde die Forderung nach hoher Anschlussfähigkeit, nach Schnittstellen, kooperativen Arbeitsbeziehungen zwischen informationsgebender Wissenschaft und -bereitstellenden Bibliotheken wiederholt. Dabei wurden auch klare Zuständigkeiten gefordert. Beispielsweise reflektierte das Referat von Kristin Herold, Johannes Kepper und Kristina Richts (Universität Paderborn) die Rolle, die RISM am „bibliothekarisch-wissenschaftlichen Übergang“ für die Bereitstellung und Organisation von Normdaten einnehmen könnte. Gleichermaßen plädierten Peter Stadtler, Irmlind Capelle und Kristina Richts, die über die Erfassung von Werktiteln im Kontext digitaler musikwissenschaftlicher Editionen referierten, für eben solche „cross-project relationships“ und ein in Linked Open Data (LOD) umsetzbares, weit gefasstes Werkkonzept. Auch der Beitrag zu Werknormdatensätzen im LOD-Kontext von David Day, Jeff Lyon und Greg Reeve (Brigham Young University) zielte darauf ab, das Potenzial von Linked Data für die größtmögliche Erweiterung von data sets zu nutzen und Forschungsprojekte in diesen Prozess einzubinden. Mit der Frage, was „das Werk“ in einem abstrakten und standardisierten Knowledge Organization System (KOS) sei und wie es dort abgebildet werden könne, beschäftigte sich Richard Smiraglia (University of Wisconsin-Milwaukee) unter Bezugnahme auf das CMME-Projekt (Computerized Mensural Music Editing). Andrew Horwitz sprach stellvertretend für RILM über die Chancen und Herausforderungen des automatisierten Abgleichens und Generierens von Werktiteln und Werknormdaten, etwa aus den RILM Abstracts und dem Index to Printed Music. Mit einer ganz ähnlichen Intention schlug Emmanuel Signer (King’s College London) die Nutzung bibliographischer Informationen aus den Paratexten gedruckter Musikalien der frühen Neuzeit vor. Den Überlegungen zu geeigneten identifier für musikalische Werke fügte André Guerra Cotta (Universidade Federal Fluminense, Rio das Ostras) den Vorschlag hinzu, den ursprünglich aus kommerziellen Motiven, zum Zweck der Identifikation von musikalischen Werken eingerichteten International Standard Work Code (ISWC) zu nutzen.
Die Referate des letzten Tages betrafen primär Fragen rund um das Werkkonzept im (musik)wissenschaftlichen Verständnis und dessen Übertragung auf geeignete bibliographische Erfassungsmodelle, insbesondere aber die Darstellung von Werkbeziehungen. Es wurde gefragt, auf welche Weise auch nicht-schriftliche, das heißt audiovisuelle oder performative Expressionen von Werken in jenen Modellen berücksichtigt werden können, und ob sich hierfür tendenziell starre, dafür aber standardisierte, hierarchische oder aber offene, relationale Strukturen besser eigneten. So rückten die Beiträge des ersten Abschnittes einzelne Komponisten und jene Charakteristiken ihrer Werke und Werkverzeichnisse in den Vordergrund, die für die Debatte relevant erschienen. Dabei ging es etwa um Bearbeitungen und die abzubildenden Relationen von Quellen zu unterschiedlichen Fassungen eines Werkes, wie Daniel Boomhower (Dumbarton Oaks) am Beispiel von Johann Sebastian Bach zeigte. Luca Lévi Sala (Université de Montréal) warf anhand von Muzio Clementis Œuvre die Frage auf, ob mehrteilige Werke wie Zyklen, Anthologien und Sammlungen separiert oder als eigenständige „Werke“ bibliographisch zu erfassen seien. Mit der Standardisierung von Werktiteln und der Bedeutung von bestehenden Werkverzeichnissen beschäftigte sich Ulrich Leisinger (Mozart Institut/Digitale Mozart-Edition Internationale Stiftung Mozarteum) im Zusammenhang mit dem Aufbau des Online-Köchelverzeichnisses. An die Referate des Vortages anknüpfend, betonten Jacek Iwaszko und Marcelina Chojecka (Narodowy Instytut Fryderyk Chopina), welche Schnittstellen die geplante Werkebene und der Gebrauch von Werknormdaten in RISM mit Projekten der Polska Cyfrowa POPC haben könnte.
Dass die Eigenschaften verschiedener Gattungen unterschiedliche Anforderungen an die Struktur eines Werknormdatensatzes stellen, zeigte Roland Schmidt-Hensel (Staatsbibliothek zu Berlin) anhand von Opern und Opernbearbeitungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Gesa zur Nieden (Universität Greifswald) und Jonathan Gammert (Universität Mainz) befassten sich dagegen mit der Modellierung von Opernpasticci und der Abbildung von Werkbeziehungen in FRBR. Andrea Zedler (Universität Bayreuth) erinnerte bezugnehmend auf Opere buffe noch einmal an die Frage, wie performanzbezogene Daten in den Erfassungsmodellen abgebildet und mit diesen verknüpft werden können. Der Beitrag von Barbara Haggh-Huglo (University of Maryland) zur Überlieferung von liturgischem Choral vor 1500 mündete in die Frage, ob „book types“ wie Gradualien und Antiphonalien zugunsten ihrer Auffindbarkeit durch die NutzerInnen ebenfalls als Werke behandelt werden könnten. Daran anschließend legte Drew Edward Davies (Northwestern University) den Fokus auf Katalogisierungsfragen von Responsoriensammlungen aus Mexico City. Am Beispiel von Villancicos und Cantatas fragte Edgar Alejandro Calderón Alcantar (Conservatorio de las Rosas) nach den Erfassungsmöglichkeiten von Textvorlagen und der Darstellung damit verbundener Werkbeziehungen. Sonia Wronkowska (Polskie Centrum RISM, Biblioteka Narodowa) wies anhand von Kompositionen, die durch Kontrafaktur und Parodie miteinander in Relation stehen, auf die derzeit noch anzutreffende Vermischung von Informationen der Werk- und Expressionsebene in RISM hin und brachte Vorschläge zu einer schärferen Differenzierung ein.
Dass die Einrichtung einer Werkebene in RISM mit anschlussfähigen identifiers von musikalischen Werken auch aus unterschiedlichsten Blickwinkeln als Mehrwert gesehen wird, machten die an diesen drei Tagen gehörten Referate überaus deutlich. Zugleich zeigte sich, dass an der Verständigung zwischen bibliothekarischer und (musik)wissenschaftlicher Community noch aktiv gearbeitet wird und werden muss, wenn skizzierte Zukunftsszenarien wie eine kooperative Erfassungsumgebung in die Tat umgesetzt werden sollen. Welches Modell zur Abbildung der exemplifizierten, oft vielgliedrigen Werkrelationen am geeignetsten erscheint, ob etwa Musikincipits in RISM künftig auf Werk- oder Expressionsebene anzugeben sein werden; wie die Zusammenarbeit von Bibliotheken, Musikwissenschaftlern und Philologen konkret organisiert und die Anschlussfähigkeit dieses Vorhabens auch für kleinste Projekte gewährleistet werden kann, sind nur einige der Fragen, die bei diesem „Ideen-Mapping“ aufgeworfen wurden und über die der Dialog auch nach diesem Auftakt fortgeführt werden wird.