Zwischen Alcina und Theodora. Frauengestalten in den Werken Händels und seiner Zeitgenossen / Between Alcina and Theodora: Female figures in the works of Handel and his contemporaries
Halle an der Saale, 03.-05.06.2019
Von Jörg Holzmann, Leipzig – 22.09.2019 | In 19 Referaten widmeten sich Forscherinnen und Forscher aus den USA, Großbritannien, Kroatien, Österreich und Deutschland Händels Frauengestalten in ihrer historischen Symptomatik und aktuellen Brisanz. Am Samstag vor den eigentlichen drei Konferenztagen erhielt Silke Leopold (Heidelberg) den Händel-Preis der Stadt Halle. Dem Motto der Tagung wurde sie in ihrem „Von A(thalia) bis Z(enobia): Händels Galerie der starken Frauen“ überschriebenen Festvortrag im Stadthaus am Markt mehr als gerecht und betonte, dass immerhin zehn von 42 Opern Händels im Titel Frauennamen trügen. Obschon Händel kein Gelehrter im engeren Sinne gewesen sei, dürfe doch davon ausgegangen werden, dass Schriften von Amaranthes oder Hoffmeister ihn zu seiner Phalanx der starken Frauen angeregt haben. Zur festlichen Rahmung dieses Vortrags trugen maßgeblich die von Katharina Bäuml gehaltene Laudatio und das sich an den Vortrag anschließende Kurzkonzert mit dem Ensemble Il Giratempo und der zu Recht mit tosendem Beifall und stehenden Ovationen gefeierten Sopranistin Margriet Buchberger bei.
Eine weitere Preisverleihung eröffnete die Runde der Referate im Rahmen der Wissenschaftlichen Konferenz. Natassa Varka (Cambridge) erhielt den von der Stiftung der Saalesparkasse geförderten Internationalen Händel-Forschungspreis 2019 für ihre Dissertation Charles Jennens‘s collection of Handel’s sacred oratorios from „Saul“ to „Jephtha“: sources, contents, and revisions, über die sie anschließend anschaulich referierte. Auch ihr zweiter, im Fortlauf der Tagung präsentierter Beitrag bezog sich auf dieses Quellenkorpus. Indem sie die Figur der Nitocris und ihre Rolle in Belshazzar einer genaueren Betrachtung unterzog und dabei vor allem auf ihre Behandlung in Jennens’ Libretto einging, zeigte sie, auch im Hinblick auf politische und religiöse Debatten der Zeit, wie sehr sich diese von vergleichbaren zeitgenössischen Rezeptionen unterscheidet.
Mit generellen Überlegungen zu Frauengestalten, Genderaspekten, literarischen Vorlagen und der Rezeption in Händels Werk, hauptsächlich innerhalb der Libretti, befasste sich anschließend die erste Sektion der Vorträge. Das theologische Profil, das Libretti und Musik den Frauengestalten verleihen, und dessen Funktion bei der Entstehung der Oratorien Händels war Thema des Beitrags von Elisabeth Birnbaum (Wien). Sie zeigte auf, dass die an prominenter Stelle auftretenden biblischen Frauen, seien sie die titelgebenden Heldinnen selbst oder zumindest Ehefrauen und Töchter der Titelhelden, sich immer wieder von der biblischen Vorlage emanzipieren, Namen bekommen und persönliche Empfindungen, Gedanken und im ursprünglichen Zusammenhang nicht vorhandene eigenständige Züge entwickeln. Inwieweit bei kulturell determinierten Rollenbildern von Handlungsspielräumen die Rede sein kann, fragte Sabine Volk-Birke (Halle). In den Libretti zu Händels Bühnenwerken scheinen sie zunächst durch Gattungskonventionen und die meist biblischen oder mythologischen und damit weithin bekannten Vorlagen recht begrenzt. Welche Auswirkungen ein sich wandelndes Rechtsempfinden im England des 18. Jahrhunderts, eine Neubewertung verschiedener, vor allem Frauen zugeschriebener Tugenden und eine differenziertere Figurengestaltung in den Libretti auf diese Spielräume hatten und heute zur Faszination von Händels Heldinnen beitragen, verdeutlichte sie exemplarisch an Theodora und Deborah.
Dass die Rezeption kanonischer Texte immer auch eine Transformation bedeutet, liegt laut Irmtraud Fischer (Graz) in der Natur dieser Textform, da deren Aussagen ja über Generationen hinweg greifbar sein sollen. Gerade biblische Frauenfiguren eignen sich zudem hervorragend dazu, Geschlechterkonzeptionen verschiedener Zeiten nachzuvollziehen, da sie wandelbarer sind als die männlichen Charaktere, denen patriarchale Gesellschaften mehrheitlich konstante Rollen zugewiesen haben.
Vorwiegend weiblich konnotierte Tugenden bildeten den Ausgangpunkt der folgenden Referate. So verwies etwa Ellen T. Harris (Massachusetts) auf das wiederkehrende Motiv der weiblichen Unschuld im Angesicht des Todes. Anhand der Oper Ariodante und der dramatischen Oratorien Susanna und Jephtha beschrieb sie, wie Händel sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten zwischen den drei Frauen, die sich in vergleichbaren Situationen wiederfinden, musikalisch herausarbeitet. Anschließend zog sie Parallelen zu weiteren Werken, in denen ein zu Unrecht gefälltes Todesurteil eine zentrale Rolle spielt, und erörterte die mögliche Zuordnung der unterschiedlichen, doch wiederkehrenden Ausgänge zu bestimmten musikalischen Umsetzungen. Dass Händels erste drei Oratorien Esther, Deborah und Athalia von Frauenfiguren als Titelheldinnen handeln, nahm Matthew Gardner (Tübingen) zum Anlass, der Darstellung weiblicher Tugend im englischen Oratorium nachzugehen. Schon zuvor war virtue, vor allem in Abgrenzung zu pleasure, ein beliebter Stoff in literarischen Werken, Theaterstücken und Opern, wurde ab den frühen 1730er Jahren aber auch für Oratorien gewählt. In die Betrachtungen einbezogen wurde die Rolle weiblicher Tugend sowohl in der englischen Gesellschaft als auch bei Mitgliedern des Adels und Hochadels.
Einem besonders komplexen, weil sozial tief, moralisch aber sehr hoch stehenden Charakter in Händels Werk widmete Ruth Smith (Cambridge) ihren Vortrag: Dorinda aus der Oper Orlando und ihrer Sängerin in der Uraufführung, Celeste Gismonti, deren sowohl musikalische als auch schauspielerische Fähigkeiten von der zeitgenössischen Kritik positiv aufgenommen worden seien. Ausgehend von Dorindas Interaktionen mit den anderen handelnden Personen wurden weiterführend die Topoi Hierarchie, Leidenschaft, Heldentum, Ritterlichkeit und das Pastorale diskutiert. Einen zentralen Aspekt bildete das Pastorale auch in den Ausführungen Ivan Ćurkovićs (Zagreb). Um den Konflikt zwischen der königlichen und der pastoralen Identität Atalantas in der gleichnamigen Oper Händels zu verdeutlichen, zog er zunächst Parallelen zur Rezeption dieser mythologischen Heldin, wie sie in literarischen Kontexten und in der bildenden Kunst jener Zeit vorgestellt wird. Anhand ausgewählter Duette, auch im Vergleich mit szenisch ähnlich gelagerten aus Il pastor fido ging Ćurković dann der Frage nach, ob Händel spezifische kompositorische Mittel anwendete, um Identitätskonflikte und das doppelbödige Spiel mit dem Erkennen oder Nicht-Erkennen sich eigentlich liebender Figuren darzustellen. Anhand der Frauenrollen sowohl in Guarinis als auch in Händels Il pastor fido verfolgte Florian Mehltretter (München) die Transformationen pastoraler Poetik vom späten 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert, wobei er insbesondere auf die Bedeutung von Handlungslogik und (weiblicher) Figurenkonzeption für die Oper einging.
Selbstverständlich wurde auch das Erbe der venezianischen Oper im Schaffen Händels in einigen Beiträgen betrachtet. Reinhard Strohm (Oxford) warf ausgehend von einem Forschungsprojekt zur venezianischen Oper 1700–1750 die Frage auf, ob nicht auch in Händels Bühnenschaffen Tendenzen zu erkennen seien, bestimmte Textarten oder Kompositionsweisen geschlechterspezifisch zu gestalten und zuzuordnen. Vorerst keine systematische Typologie anstrebend präsentierte er verschiedene Arientypen, die vorwiegend weiblich konnotiert scheinen, wie etwa die besonders vielschichtige Arie mit zwei Partnern, eingesetzt in triangulären Konfliktsituationen, etwa, wenn eine weibliche Figur augenscheinlich offen einem Bewerber ihre Liebe gesteht, während sie leiser und gleichsam kommentierend dem anderen Gesangspartner gegenüber das vorher Gesungene relativiert oder dem Publikum zugewandt ihr Verhalten erläutert. Wendy Heller (Princeton) fragte in ihrem Beitrag nach Händels Interesse an Opernstoffen wie Flavio, Serse und ähnlichen, deren Wurzeln im 17. Jahrhundert zu suchen sind. Sie schlug vor, dass es zu einem Großteil dem dramatischen Potenzial geschuldet gewesen sein könnte, das die Frauengestalten der venezianischen Oper mit ihrer Fülle an Humor, Gewalt und Erotik auszeichnete, die im eher konventionellen 18. Jahrhundert wohl nicht mehr gestattet gewesen seien. Mit seinen zahlreichen Verwicklungen und einem starken Hang zum Komödiantischen nimmt das Libretto zu Semiramide riconosciuta, bei der Londoner Aufführung mit Margherita Durastanti besetzt, eine Sonderstellung im Schaffen Metastasios ein und gemahnt dabei ebenfalls stark an Traditionen des 17. Jahrhunderts. In seinem Vortrag verglich John H. Roberts (Berkeley) Händels Rezitative mit denen aus Vincis Vertonung desselben Stoffes, die Händel wahrscheinlich nur durch eine Ariensammlung kennengelernt hatte.
Einen weiteren Schwerpunkt der Tagung bildeten exemplarische Lebensläufe ausgewählter Sängerinnen. Berta Joncus (London) ging der Frage nach, wie Giulia Frasi ihre Auftritte in den Ranelagh Gardens nutzte, um sich einerseits als wahrhaft „englische“ Sopranistin zu präsentieren und sich andererseits für weitere Besetzungen in größeren Werken Händels zu empfehlen. Sie trat hierfür in den Jahren 1748, 1749 und 1753 an der Seite des damals führenden Tenors John Beard bei von diesem selbst organisierten „breakfast concerts“ auf und war mit ihren Bestrebungen durchaus erfolgreich, wurde sie doch noch nach 1800 mit Konzerten im Freien assoziiert. Ausgehend von Anmerkungen im Notentext, die bis 1751 oder 1752 von Händel selbst und bis in die 1760er Jahre aus der Hand von John Christopher Smith (Vater und Sohn) stammen, vermittelte Donald Burrows (Milton Keynes) einen Einblick in die Besetzung von Gesangssolisten in den späten Oratorien Händels. Die Akteure ließen sich dabei in Stammpersonal, wiederkehrende und nur punktuell eingesetzte Sängerinnen und Sänger einteilen; ein Plan für ganze Spielzeiten sei aber durchaus anzunehmen.
In ihrem Vortrag zeigte Ina Knoth (Hamburg), inwiefern die Figur der Clelia aus Muzio Scevola in besonderem Maße zur Befestigung einer für das Londoner Publikum wiedererkennbaren Bühnenpersönlichkeit der Sängerin Margherita Durastanti konzipiert wurde. Die unterschiedliche Gestaltung der kämpferischen Auftritte in den drei Akten wurde sowohl vor dem Hintergrund der literarischen Adaption des historischen Stoffes durch den Librettisten Rolli als auch vor dem der unterschiedlichen musikalischen Umsetzungen durch die drei Komponisten Händel, Amadei und Bononcini beleuchtet. Weiter ging Knoth auf eine eventuell gezielte Inszenierung Durastantis als Amazone ein und bezog dabei einerseits die in England verbreiteten Vorstellungen von Frauen als Kriegerinnen und andererseits Durastantis Partien aus ihrer frühen Zeit in London mit ein, während derer sie mehrfach in Männerrollen in Erscheinung getreten war. Den Auswirkungen, die eine Neu- oder Umbesetzung einer Partie haben kann, ging Graydon Beeks (Claremont) nach. Während der Entstehung von Ariodante bekamen John Beard und kurz nach der Fertigstellung Cecilia Young die Rollen von Lurcanio und Dalinda anstelle anderer Sänger zugeteilt, was dazu führte, dass Händel bereits komponiertes Material verändern und neues hinzufügen musste. Dies hatte aber nicht nur auf die Gestaltung der Musik Einfluss, sondern schärfte auch in besonderem Maße die Charaktere.
Anke Charton (Wien) zeigte aus einer umfassenderen kulturgeschichtlichen Perspektive, wie die Darstellung weiblicher Handlungsspielräume in Händels Opern nicht nur sozioästhetisch bedingt war, sondern auch für das Verständnis heutiger Geschlechtervorstellungen aussagekräftig sein kann. Den Abschluss der Tagung bildete der Vortrag von Suzanne Aspden (Oxford), der sich passend zur starken Präsenz englischsprachiger Referentinnen mit der emblematischen, allegorischen und durchaus auch didaktischen Repräsentanz „Britannias“ in Händels Werk und mehr noch seiner Zeitgenossen beschäftigte – äußerst anschaulich belegt durch ikonografische Zeugnisse jener Zeit.
Umrahmt wurde die Konferenz von einem Rundgang durch die Räumlichkeiten der Hallischen Händel-Ausgabe und einer Führung durch die Sonderausstellung „Ladies first“ im Händelhaus.