„Beethovens Vermächtnis“. Mit Beethoven im Exil
Bonn, 01.-03.03.2018
Von Christina Richter-Ibáñez, Tübingen – 31.08.2018 | Das Bonner Beethoven-Haus arbeitet seit einiger Zeit seine eigene Geschichte auf. Große Beachtung fand 2017 eine Ausstellung mit Begleitband zu den Geschehnissen im Nationalsozialismus. Nun war das Haus Gastgeber einer internationalen Tagung, die das Beethoven-Bild derjenigen in den Blick nahm, die aus dem Musikleben und der Musikwissenschaft ausgeschlossen, vertrieben und verfolgt wurden. Titelgebend für die Tagung wurde eine Studie von Paul Bekker, die dieser 1934 im Pariser Exil verfasste und die von Anna Langenbruch in den Exilantenakten der französischen Polizei zwischen Unterlagen der Exilzeitschrift Die Zukunft aufgefunden wurde. Bekkers annotiertes Typoskript Beethovens Vermächtnis sollte offenbar, wie Langenbruch darstellte, bei Editions Phenix erscheinen, blieb jedoch unpubliziert. Die Bonner Tagung verfolgte nun das Ziel, diese Schrift zu kontextualisieren und grundsätzlich danach zu fragen, wie Exilantinnen und Exilanten mit der Musik und dem Image Beethovens umgingen, auf welche Situation sie in den Exilländern trafen und welche Beiträge sie im Exil zur Interpretation und Rezeption Beethovenscher Werke lieferten. Dazu vereinten die Organisatorinnen der Tagung, Anna Langenbruch (Universität Oldenburg) und Christine Siegert (Beethoven-Archiv Bonn), Referentinnen und Referenten, die einen globalen Blick auf Beethoven im Exil freigaben.
Annegret Fauser (Chapel Hill NC, USA) fasste zunächst zusammen, auf welche musikkulturelle Situation Exilanten in Amerika trafen: Beethoven galt bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts als protoamerikanisch und als Prophet eines neuen Millenniums, wozu John Sullivan Dwights Sicht auf die Symphonien beigetragen hatte. Besonders in der Neunten erkannte man den tönenden Ausdruck menschlicher Freiheit und einen wahren Demokraten, der zum 100. Todestag 1927 ausgiebig gefeiert worden war. Doch erst 1941 wurde Beethoven zum „transnationalen Krieger“, indem das rhythmische Kopfmotiv der Fünften Symphonie in Verbindung mit dem Victory-Morsezeichen globale Verbreitung in Radio und Film erlangte. Das Kämpferische, Maskuline, auch das typisch Deutsche sei bei der Beethoven-Interpretation in Amerika fortan bevorzugt worden, obwohl Emigranten wie Hanns Eisler an einer Korrektur des Beethoven-Bildes arbeiteten, jedoch kaum öffentliches Interesse fanden. Erstaunlich ähnelte die sowjetische Auffassung dieser amerikanischen Entwicklung. Allerdings galt Beethoven hier bereits früher, in den 1920er Jahren, als Revolutionär, wie Stefan Weiss (Hannover) darlegte. Lenin wie Stalin hätten Beethovens Werke geschätzt – für eintreffende Emigranten sei es darum in den 1930er Jahren am besten gewesen, die bestehende Auffassung der Werke zu bestätigen und keine Neuinterpretation zu versuchen. Als Dirigenten sich auf die Ausreise in die Sowjetunion vorbereiteten, lernten sie wie Kurt Sanderling nicht nur Russisch, sondern auch Beethovens Symphonien auswendig – und gewannen dadurch unter anderem eine neue Sicht auf Tschaikowsky.
Die Diskussionen in Schweden, so Henrik Rosengren (Lund), kreisten in den Kriegsjahren wie andernorts auch häufig um die Frage, ob Beethoven nun eigentlich Teil der deutschen Kultur oder vielmehr universal sei. Zumindest sei Beethoven als Teil des gemeinsamen Erbes von Schweden und Deutschland empfunden worden, das beide Länder innerlich verband. Wenn dagegen exilierte Dirigenten wie Fritz Busch und Erich Kleiber in Südamerika dirigierten, wurde ihr Programm von einheimischen Musikern manchmal durchaus als einseitig deutsch kritisch kommentiert, wie Daniela Fugellie (Santiago, Chile) am Beispiel Chiles dokumentierte. Fugellie wies in ihrem Referat zur Aufführung der Beethoven-Symphonien während des Krieges auch darauf hin, dass in Chile bereits 1913 alle Symphonien in einem Zyklus gespielt wurden und Beethoven durch Romain Rollands Buch in spanischer Übersetzung, Phonogramme und Pianola-Rollen sowie das Jubiläumsjahr 1927 bekannt war.
Dass das Schreiben über Beethoven davon abhing, welche Einstellung Emigranten grundsätzlich zur politischen Bedeutung von Musik hatten, zeigte Sophie Fetthauer (Hamburg) in ihrem Beitrag zum Musikerexil in Shanghai. Zum Beispiel interpretierte der kommunistische Publizist Alfred Dreifuß anders als seine Kollegen Alfred Kahn, Erwin Felber und Martin Hausdorff Beethoven politisch und speziell Fidelio als Aufschrei aller Geknechteten. Glenn Stanley (Storrs CT, USA) konstatierte dagegen, die Fidelio-Aufführungen von Bruno Walter und Arturo Toscanini in Amerika spiegelten nichts „Spezifisches“ der Situation der Interpreten oder des kulturellen Kontextes der Zeit – dies schließe jedoch nicht aus, dass sie in der Öffentlichkeit politisch rezipiert wurden.
Die Exilsituation in Amerika, so konstatierte Reinhard Kapp (Wien), sei im Denken Rudolf Kolischs ausgesprochen produktiv wirksam geworden. Kolisch habe erst im Exil begonnen, zu publizieren und den Begriff „Wiener Espressivo“ zu prägen. So seien die Verbreitung und Kenntnis der Aufführungslehre der Wiener Schule, auch ihre Präsenz bei den Darmstädter Ferienkursen, ein Produkt des Exils, in dem Kolisch die Aufführungslehre für das amerikanische Publikum neu formulierte und deren Grundlagen erklärte. Kolischs Beethoven-Kurse in Darmstadt in den 1950er Jahren wirkten auch im Werk Luigi Nonos und dessen Zusammenarbeit mit dem LaSalle String Quartet fort, wie Dörte Schmidt (Berlin) ausführte. Walter Levin, Primarius des LaSalle-Quartetts, habe auch in seiner Bonner Lehrtätigkeit in den 1960er Jahren weiter mit Kolischs Aufsatz „Tempo and Character in Beethoven’s Music“ (1943) gearbeitet und der später blühenden Quartettkultur in Deutschland eine Basis gegeben, die als konstruierte Kontinuität verstanden werden kann. Wie Beethoven nach 1945 in Deutschland inszeniert wurde, demonstrierte Matthias Pasdzierny (Berlin) anhand der Konzerte von Wilhelm Furtwängler und Yehudi Menuhin in der frühen Nachkriegszeit sowie des Imagefilms Botschafter der Musik der Berliner Philharmoniker 1951. Dass die Erinnerung und Verehrung Beethovens in den Nachkriegsjahren nicht geringer wurde, zeigte auch Carolin Stahrenbergs (Innsbruck) Beitrag: Beethoven-Büsten oder die aus dem Wiener Leben ins Exil gerettete Lebendmaske von Beethoven behielten für einige Exilanten in Großbritannien und den USA bis in die 1980er Jahre große Bedeutung im Alltag als „Symbolfigur“ und „Erinnerungsanker“.
Joachim Schlör (Southampton) wies als Keynote Speaker erneut darauf hin, dass Musik in der Migrationsforschung noch immer zu schwach belichtet sei. Dabei, so Schlör, archiviere Musik bei aller Lückenhaftigkeit Momente von Migrations- und Eingewöhnungsprozessen, auch wenn die Personen nicht mehr lebten. Wie andere Erinnerungsstücke, die im Koffer mitgenommen werden, seien zudem musikbezogene Dinge wie Noten und Instrumente als Teil materieller Kultur im Reisegepäck der Migranten vertreten und bildeten die Heimat im Koffer ab.
Stefan Zweig sammelte musikalische Erinnerungsgegenstände, Autographe und alltäglich Dinge von Beethoven vor und während seiner Emigration. Er nahm einige Dinge in seinem Koffer mit und veräußerte sie, wenn er Zahlungsmittel benötigte. Melanie Unseld (Wien) interpretierte Zweigs Sammlung mit Bezug zu seinem eigenen Text Zauber der Schrift und zeigte, dass die materiale Dimension der Beethoven-Verehrung im Exil aufgegeben wurde, die mentale Dimension jedoch in den Schriften nachwirkte. Die Erinnerung an den Moment der Aufführung in besonderen Konzerten mit Beethovens Musik erörterte Sigrid Nieberle (Dortmund) unter dem Titel „Beethoven aus der Ferne. Erinnerungen an die Gegenwart“. Neben Texten von Exilierten wie Annette Kolb und Thomas Mann diskutierte Nieberle den Drehbuchentwurf Der letzte Karneval von Wien, den Joseph Roth und Leo Mittler 1939 im Exil erdachten. Gespickt mit Zitaten aus dem Wiener Umfeld und transmedialen Ideen fehlte dem Filmtreatment auch die Frage nach der Bedeutung und dem Sammeln von Beethoven-Manuskripten nicht. Insbesondere dem Schreiben über Beethoven widmete sich Beate Angelika Kraus (Bonn) in ihrem Vortrag über Kurt Singer, den Gründer des Jüdischen Kulturbundes. Nach der fortschreitenden Einschränkung seiner künstlerischen Arbeit in Deutschland konzipierte Singer im Amsterdamer Exil ein Opernbuch, in dem er Beethovens Fidelio als dramatische, politische Oper beschrieb und forderte, alles Singspielhafte in Inszenierungen zu vermeiden. Die schriftstellerische Arbeit habe Singer zwischen 1938 und 1942 vorübergehend „gerettet“, ihm gelang jedoch die weitere Flucht nicht. 1943 wurde er nach Theresienstadt deportiert, wo er den Tod fand.
Anna Langenbruch präsentierte in ihrem Hauptvortrag Aufbau und Konzept von Paul Bekkers Studie Beethovens Vermächtnis, diskutierte Bekkers Sicht auf einen Verfall der Musik seit Beethoven und stellte Bezüge zu Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von 1935 her. Mit Bekker beschäftigte sich ebenfalls Dietmar Schenk (Berlin), der dessen Briefwechsel mit Leo Kestenberg auswertete. Wie der Musikkritiker Bekker und der Musikpädagoge Kestenberg setzten auch akademische Musikwissenschaftler die in den 1920er Jahren begonnene Auseinandersetzung mit Beethoven im Exil fort. Beispielhaft fasste Sebastian Bolz (München) Alfred Einsteins Gedanken über Beethoven zusammen, dem Einstein zwar keine eigene Monographie widmete, den er aber als Denk-Figur bzw. Denk-Raum unter anderem in Größe in der Musik (1941) diskutierte. Esteban Buch (Paris) verglich anschließend Leo Schrades Beitrag „Das französische Bild Beethovens“ in der 1937 erschienenen Festschrift für Ludwig Schiedermair Beethoven und die Gegenwart mit einem späteren, vermutlich in Yale entstandenen Text mit dem Titel „Beethoven in France“. Susanne Borchers (Hannover) zeigte in ihrem Beitrag über Edith Gerson-Kiwi, dass diese insgesamt, wie sie selbst sagte, „sehr un-Beethovenianisch erzogen“ worden sei. Nach der Emigration nach Israel habe Gerson-Kiwi gelegentlich, zum Beispiel anlässlich des Beginns der Konzertsaison 1937, über Beethoven geschrieben und das verbreitete Beethoven-Bild immer wieder kritisch reflektiert – so auch im Jubiläumsjahr 1970.
In Patrick Bormanns (Bonn) abschließendem Vortrag wurde verdeutlicht, dass die Haltung des Beethoven-Hauses im Nationalsozialismus ungebrochen bis in die 1960er Jahre fortwirkte. Der 1933 getroffenen Entscheidung, die Kammermusikfeste nur mit „arischen“ Musikern bespielen zu lassen, folgte der Austritt vieler vertriebener Mitglieder; Adolf Busch wurde die Ehrenmitgliedschaft entzogen. Nach dem Krieg wurden kaum neue Kontakte zu (Re-)Migranten geknüpft, obwohl sich das Beethoven-Haus gern als Ort der Versöhnung inszeniert habe. Doch unter den neuen Ehrenmitgliedern fanden sich kaum früher Vertriebene, dafür ausgewiesene Nazis.
Mit der bevorstehenden Publikation der Tagungsbeiträge inklusive Bekkers Vermächtnis ist das Beethoven-Haus auf dem Weg zum Jubiläumsjahr 2020, in dem nicht nur die Dauerausstellung des Hauses ein neues Gesicht erhalten wird, sondern auch weitere Aspekte der Beethoven-Rezeption der jüngeren Geschichte diskutiert werden sollen. Für die späteren Nachkriegsjahre hat die Aufarbeitung der Archivbestände im Beethoven-Haus allerdings erst begonnen, so dass in den kommenden Jahren weitere Erkenntnisse zu erwarten sind.