Beethoven und Rossini in ihrer Epoche
Bonn und Köln, 08.-10.11.2018
Von Jürgen May, Bonn – 19.03.2019 | Ludwig van Beethoven und Gioachino Rossini, zwei Komponisten, die das Musikleben ihrer Zeit auf jeweils eigene Weise geprägt haben, waren Gegenstand eines dreitägigen Symposiums, das das Beethoven-Haus Bonn und die Hochschule für Musik und Theater Köln anlässlich des 150. Todesjahres Rossinis in Bonn und Köln veranstalteten. Eine nationalistisch geprägte deutsche Musik-Historiographie – dies wurde in den einführenden Worten der jeweiligen wissenschaftlichen Leiter*innen der beiden Institutionen, Christine Siegert und Arnold Jacobshagen, deutlich –brachte Rossini und Beethoven gegeneinander in Stellung und stilisierte dabei das vermeintlich Charakteristische ihrer persönlichen Stile zu Kristallisationspunkten nationaler Identität. Dies prägte die Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen den beiden Zeitgenossen bis in die jüngere Zeit, abzulesen nicht zuletzt an Carl Dahlhaus’ wirkmächtigem Begriff des „Stildualismus“, auf den im Verlauf der Tagung denn auch immer wieder kritisch rekurriert wurde. Es lag demnach auf der Hand, beide Künstlerpersönlichkeiten und ihre Musik im Kontext ihrer Zeit neu zu beleuchten und dabei verbreitete Klischees und Stereotypen zu hinterfragen. Denn anders als später im 19. Jahrhundert propagiert, wurden Beethoven und Rossini von zeitgenössischen Rezipienten nicht durchgängig als Gegenpole wahrgenommen, sondern vielmehr als zwar unterschiedliche, doch sich ergänzende Ausprägungen der Epoche, was sich noch im „Die Epoche Beethovens und Rossinis“ überschriebenen Kapitel in Raphael Georg Kiesewetters 1834 erschienener Geschichte der europäisch-abendländischen oder unserer heutigen Musik niederschlug.
Zu Beginn widmete sich Melanie Unseld (Wien) dem Thema der „Begegnung“ zwischen Rossini und Beethoven – freilich nicht im Sinne der Frage nach dem persönlichen Zusammentreffen, eine Begebenheit, die sich anhand der zum heutigen Zeitpunkt bekannten Quellen weder veri- noch falsifizieren lässt. Stattdessen untersuchte sie Funktion und Bedeutung eines solchen „emblematischen“ Ereignisses unter dem Aspekt der Biographik. Axel Körner (London) stellte sodann die Beziehung der beiden Komponisten in den (kultur-)historischen Kontext der Habsburger Monarchie, deren Bewertung durch die jüngere Geschichtsforschung einen Paradigmenwechsel erlebte. Dabei verwies er nicht nur auf die enge politisch-personelle Verbindung Österreichs zu Italien, sondern legte auch überzeugend dar, dass gerade Rossinis Musik (und nicht die Beethovens) als supranationales, kosmopolitisches Phänomen galt und damit der Metternich’schen Staatsidee in geradezu idealer Weise korrespondierte. Den Abschluss der ersten, unter dem Stichwort „Begegnung“ stehenden Sektion bildete eine von Simone di Crescenzo (Rom) präsentierte Gegenüberstellung Rossinis und Muzio Clementis vor allem unter dem Aspekt ihrer jeweiligen didaktischen Werke, des letzteren für das Klavier, des ersteren für den Gesang. Dabei arbeitete er besonders die von beiden angestrebte Einheit von Technik und espressività heraus.
Beethoven und Rossini im Spiegel der Musikkritik galten die Beiträge von Carolin Krahn (Wien) zu Johann Friedrich Rochlitz und Arnold Jacobshagen (Köln) zu Friedrich August Kanne. Anders als bei Kiesewetter zeichnen sich hier bereits Tendenzen einer Dichotomisierung ab. Wurde Rossini dem Bereich des „Niedlichen“ mit Eigenschaften wie Leichtigkeit und Unterhaltsamkeit zugeordnet (Rochlitz), ja, gar als „Gift“, das „mit Zucker versetzt“ sei (Kanne), so fand im Hinblick auf Beethoven eine Idealisierung statt, die seine Musik als genial und epochal (Rochlitz), poetisch, edel und gewaltig (Kanne) apostrophierte. Kanne allerdings revidierte nach zunehmender und intensiverer Auseinandersetzung mit Rossini seine Haltung und gestand ihm gerade für seine späteren Opern „Streben nach […] Correctheit und musikalischer Gediegenheit“ zu, womit er der Vollendung nähergekommen sei.
Christine Siegert (Bonn) und Guido Johannes Joerg (Ludwigsburg) rückten Beethovens Schüler Carl Czerny und Ferdinand Ries in den Blick. Für ersteren, den „idealen Interpreten“ Beethovens, konstatierte Siegert signifikante Unterschiede in der Haltung einerseits zu seinem Lehrer und andererseits Rossini gegenüber. Zwar widmete er sich in Transkriptionen und Bearbeitungen beiden intensiv; während er sich aber bezüglich Rossinis eher als kongenialer Bearbeiter, als Kollege auf Augenhöhe sah, blieb er Beethoven gegenüber seiner Rolle als Schüler treu und pflegte – auch über den Tod seines Lehrers hinaus – eine geradezu inszenierte Distanz. Wie Czerny widmete sich auch Ries gleichermaßen den Werken seines Lehrers wie jenen Rossinis. Joerg arbeitete dabei besonders auch die kommerziellen Aspekte heraus, wenn er etwa darauf verwies, dass Ries sich mit der Auswahl der Vorlagen für seine Bearbeitungen an Spielplänen und Vorlieben seiner jeweiligen Aufenthaltsorte orientierte. Von der Qualität dieser Bearbeitungen konnte man sich übrigens im abendlichen Konzert des Pianisten Stefan Irmer ein Bild machen.
Die schon bei Czerny und Ries relevante Frage nach Bearbeitungen rückte in der folgenden Sektion in den Fokus. Fabian Kolb (Mainz) zeigte anhand der Fülle der Arrangements beider Komponisten in populären Editionen für die Hausmusik ebenso wie für Harmonie- und Militärmusik, welch großen Anteil Rossini und Beethoven an der „Popular- und Unterhaltungskultur“ ihrer Zeit hatten – eine Terminologie, die in der anschließenden Diskussion kontrovers diskutiert wurde. Der Vortrag Herbert Schneiders (Saarbrücken), in Abwesenheit des Referenten verlesen, lenkte das Interesse auf einen weiteren Aspekt der damaligen Bearbeitungspraxis: Zeitgenössische Kammermusikbearbeitungen von Opern dienten nicht zuletzt auch Aufführungen außerhalb der großen Opernhäuser.
Die Sektion „Ästhetischer Diskurs“ eröffnete Ingrid Fuchs (Wien), die sich mit dem Verhältnis Grillparzers zu beiden Komponisten befasste. Sie arbeitete überzeugend heraus, dass der Dichter die Größe Beethovens einerseits anerkannte, gleichzeitig aber starke Vorbehalte gegen das „trunken machende“, Grenzenlose seiner Musik hegte. Dagegen galt ihm Rossini als Paradigma seiner eigenen Opernästhetik, wonach der unmittelbar zum Gemüt sprechenden Musik das Primat über die Poesie gebührte. Anschließend stellte Sabine Henze-Döring (Marburg) die ästhetischen Positionen Giuseppe Carpanis in den Kontext von dessen politischen Anschauungen: Italiener und gleichzeitig Anhänger der Habsburger Monarchie, betonte er das Supranationale, Universelle von Rossinis Musik. Wenn Henze-Döring zu dem Schluss gelangte, dass für Carpani hier das Künstlerische mit den politischen Idealen Metternichs ideal korrespondierte, dann deckte sich dieses Ergebnis exakt mit jenem des Beitrags von Axel Körner.
Dem naheliegenden, wenngleich nicht unproblematischen Vergleich der Kompositionen selbst galten die Referate Federico Gons (Wien), Mark Everists (Southampton), Marco Beghellis (Bologna) und Birgit Lodes’ (Wien). Gon lenkte zunächst den Blick auf die Bedeutung Haydns, dessen Musik Rossini intensiv studiert hatte, und dessen Stil er seiner Kompositionsweise integrierte, während das – in Abwesenheit verlesene – Papier Everists die Hintergründe der bemerkenswerten zeitlichen Koinzidenz der Aufführungen von Beethovens Symphonien einerseits und Rossinis Guillaume Tell-Ouvertüre andererseits in Paris 1828 beleuchtete. Ausgehend von Beethovens Streichquartett op. 130 und unter besonderer Berücksichtigung der Opern Rossinis ging Beghelli der Etymologie und Begriffsgeschichte des Terminus „Cavatina“ nach. Birgit Lodes schließlich stellte Beethovens Missa solemnis der Petite messe solennelle Rossinis gegenüber und zeigte, dass naheliegend erscheinende Gemeinsamkeiten zwischen beiden Messkompositionen eher oberflächlicher Natur sind, während sich musikalische Einflüsse Beethovens auf Rossinis späte Messe nicht nachweisen lassen; eher finden sich in letzterer Spuren Bachs oder Cherubinis.
Gewissermaßen komplementär näherten sich die Referenten der Sektion über Aufführung und Interpreten dem Gegenstand ihrer Untersuchungen. Leonardi Miucci (Bern) fragte nach der zeitgenössischen Präsenz Beethovenʼscher Klaviermusik in Italien, exemplarisch dargestellt am Beispiel Milanos, und strich heraus, dass Beethovens Klavierkompositionen schon deshalb öffentlich kaum präsent waren, weil das italienische Musikeben so stark auf die Oper ausgerichtet war, dass sich pianistische Darbietungen im Wesentlichen auf den privaten Rahmen beschränkten. Das Wirken von „Rossini’s German singers“ in Wien wurde, wie Claudio Vellutini (Vancouver) vortrug, nicht zuletzt überlagert von politischen Einflüssen: Nach der Schlacht bei Austerlitz waren nur noch diejenigen italienischen Sänger in Wien geblieben, die bereit waren, deutsch zu singen, so dass auch die italienische Oper großenteils von deutschen Sänger*innen bestritten wurde. Darüber hinaus breiteten sich nationalistische Tendenzen aus, die sich etwa in der Forderung äußerten, italienische Opern in deutscher Sprache aufzuführen.
Nachdem Rita Steblin (Wien) die „Reactions to Rossini’s Tancredi in 1817/18 in the Beethoven and Schubert Circles“ untersucht und dabei auf die zahlreichen kursierenden Arrangements sowie eine Parodie dieser Oper verwiesen hatte, ging Reto Müller (Basel) ins biographische Detail: Akribisch hatte er Quellen gesichtet und Material zusammengetragen, um den Wiener Aufenthalt Rossinis im Jahr 1822 tagebuchartig zu rekonstruieren – eine für zukünftige Forschungen unentbehrliche Grundlage. Nicht in erster Linie, aber eben geradezu zwangsläufig kam Müller schließlich auf die Frage des persönlichen Zusammentreffens zwischen Rossini und Beethoven zurück mit dem Ergebnis, dass auch seine Recherchen keinerlei Anhaltspunkt für die Faktizität dieses „emblematischen“ Ereignisses lieferten.
Die letzte Sektion stand unter dem weit gefassten Motto „Beethoven und Rossini – ein Gegensatz?“, eine Fragestellung, der sich die drei Referate freilich nur am Rande widmeten. So ging Stefano Castelvecchi (Cambridge) der Problematik nach, ob der gültige Text einer Oper derjenige der Partitur-Hauptquelle oder des Librettos sei und wies auf teils eklatante Unterschiede hin. Opernbesucher des 17. bis 19. Jahrhunderts etwa hatten eher das Libretto vor Augen, während die Sänger den ihrem Notenmaterial unterlegten Text sangen – alles in allem Sachverhalte, die auch für die Editionspraxis relevante Fragen aufwerfen. Paolo Fabbris (Ferrara) Überlegungen galten der Oper Zelmira: Gewisse stilistische Eigenarten sah Fabbri als Indiz für eine „self-adaption“ Rossinis „to the Viennese taste“ und somit auch für die Wahrnehmung der Oper als Gattung jenseits nationalistischer Tendenzen. Helga Lühning (Bonn) schließlich richtete den Fokus noch einmal auf Beethoven: Sie stellte die Wiener Wiederaufführung des Fidelio 1822 in den Kontext der von Domenico Barbaja im Jahr zuvor übernommenen Direktion. Mit insgesamt sieben Vorstellungen nahm sich das Werk gegenüber den das Programm beherrschenden Rossini-Opern eher bescheiden aus. Offenbar war Barbaja aber die Aufführung deutscher Opern (neben Fidelio etwa Webers Freischütz) wichtig, schon um von vornherein dem Verdacht entgegenzutreten, er bevorzuge einseitig italienisches Repertoire.
Wenn auch nicht alle präsentierten Vorträge gleichermaßen ertragreich und erhellend waren, so ist insgesamt ein durchwegs positives Fazit der Tagung zu ziehen. Es gelang, die mitunter einseitige Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen Beethoven und Rossini – oder zwischen Rossini und Beethoven – einer kritischen Revision zu unterziehen und durch eine differenzierte und dem historischen Kontext angemessen vielschichtige Sichtweise das Denken in Klischees und Stereotypen aufzubrechen, um Verhältnis der beiden Zeitgenossen neu zu bewerten. So erschien es durchaus passend, das Symposium mit einem „Fest für Rossini“ zu beenden, das von Mitgliedern der Kölner Hochschule fulminant präsentiert wurde.