Die Kantate: Quellen, Repertoire und Überlieferung im deutschen Südwesten 1700-1770
Stuttgart, 16.-18.11.2017
Von Jörg Holzmann und Frithjof Vollmer, Stuttgart – 20.02.2018 | Obwohl die Geschichte der lutherischen Kirchenmusik im 18. Jahrhundert maßgeblich von der Kantate geprägt wurde, konzentrierte sich die Erforschung dieser Gattung bislang auf den nord- und mitteldeutschen Raum – so Joachim Kremer (Stuttgart) über die Motivation für diese Tagung. Denn zahlreiche nachweisbare und überlieferte Quellen geben Anlass, auf die Entwicklung der Gattung in Südwestdeutschland zwischen 1700 und 1770 aufmerksam zu machen. Die Kooperation zwischen der Hochschule für Musik und darstellende Kunst, der Universität Stuttgart (Abteilung Landesgeschichte) und dem Landeskirchlichen Archiv bot die Möglichkeit zum interdisziplinären Austausch, der sich in drei Themenkomplexen entfaltete, beginnend zunächst mit einer Einordnung der Kantate in den kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext.
Ihren Eröffnungsvortrag widmete Sabine Holtz (Stuttgart) der musikalischen Ausbildung Tübinger Theologen im 18. Jahrhundert. Während in den Klosterschulen durch den Chordienst der Grundstein für die musikalische Begleitung des Gottesdienstes gelegt wurde, kam der musikalischen Ausbildung an Stift und Universität keine größere Bedeutung zu. Dies führte dazu, dass in Württemberg „Musik und Pfarrhaus erst seit dem 19. Jahrhundert“ zusammengehörten. Die Verortung der Kirchenmusik im württembergischen Predigtgottesdienst thematisierte Matthias Figel (Hausen ob Verena). Eine maßgebliche Änderung der musikalischen Gestaltung des Gottesdienstes stelle die in der Kirchenordnung von 1536 festgelegte Konsolidierung des deutschsprachigen Gemeindegesanges dar. Weitere Kirchenordnungen führten schließlich zur im 18. Jahrhundert praktizierten Liturgie, welche für die Erschließung der Kantate im titelgebenden Zeitraum ausschlaggebend ist. Der Frage nach einem pietistischen Einfluss auf die Kantate ging Konstanze Grutschnig-Kieser (Stuttgart) mit einem Vergleich verschiedener Gesangsbücher nach, wobei Johann Georg Christian Störl eine besondere Bedeutung zukam. In der anschließenden Debatte wurde deutlich, dass sich eine eindeutige Verortung der Texte dieser Sammlung in einen dezidiert pietistischen Kontext nur schwer vornehmen lässt.
Untersuchungen zum überlieferten Repertoire und den Verbreitungswegen der Kantate leitete Joachim Kremer (Stuttgart) mit der Frage ein, inwieweit sich der deutsche Südwesten als „Kantatenlandschaft“ umreißen lasse. Er resümierte, dass mit der Kantate eher ein „supraregionales Erfolgskonzept“ vorliege, das stark vom Austausch mit anderen Regionen profitierte. Wenn sich auch die Überlieferungsdichte nicht mit der mitteldeutschen messen könne, lässt sich am Kantatenschaffen ausgewählter Komponisten und dem mitteldeutschen Import ein deutlicher Drang zur Modernisierung der südwestdeutschen Kirchenmusik ablesen. Helmut Lauterwasser (München) zeigte am Beispiel der Überlieferungen aus Nürtingen, dass historische Inventare scheinbar entlegener Orte einen wertvollen Beitrag zur Erforschung des Kantatenschaffens liefern können. Aufgrund dieser Basis forderte er die Einpflegung von werkbezogenen Informationen und eine Katalogerweiterung um fragmentarische Quellen auf RISM und regte ein Forschungsprojekt zur Erschließung von nicht vollständig erhaltenen archivarischen Quellen an. Daran anknüpfend gab Christoph Öhm-Kühnle (Tübingen/Herrenberg) Einblicke in die Musikpraxis in Herrenberg. Hier offenbarten sich insbesondere der reiche Bestand an Noten mit regionalem wie überregionalem Bezug, die vorhandenen Musiker und verwendeten Instrumente sowie die besondere Rolle von Musikmäzenen in der Förderung des kirchenmusikalischen Lebens einer Kleinstadt. Anhand der Distribution von Werken Georg Anton Bendas und den neu gewonnenen Erkenntnissen zu musikalienbezogenen Verteilungszentren widersprach Gregor Richter (Leipzig) dem „weithin verbreiteten Glauben an den Niedergang der Kantate“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Stattdessen hat es ein noch langanhaltendes Interesse an neuen Kantaten − dem veränderten Zeitgeschmack nach Telemann entsprechend − gegeben. Welche Erkenntnisse sich aus dem Kantatenschaffen des über lange Zeit seines Lebens in Straßburg ansässigen Komponisten und Dichters Johann Christoph Frauenholtz für die Region ziehen ließen, untersuchte Sascha Wegner (Bern). Anhand einer kompositionstechnischen Analyse zeige sich, dass für Deutschlands Südwesten ein anders gelagerter Kantaten-Begriff verwendet werden müsse, als ihn Friedhelm Krummacher vorschlug. Mit Blick auf die Häufung fränkischer Komponisten im deutschen Südwesten wies Christine Blanken (Leipzig) auf die trümmerhafte Quellenüberlieferung in Nürnberg hin. Diese mache es nötig, den Spuren Nürnberger Komponisten über den südwestdeutschen Raum hinaus zu folgen, wobei vor allem die Residenzen in Schleiz und Rudolstadt zu nennen seien.
Abschließende Beiträge zu einem Profil der Kantate in Baden und Württemberg wurden von Rüdiger Thomsen-Fürst (Heidelberg/ Schwetzingen) eröffnet, indem er den am Durlach-Badener Hof tätigen Johann Philipp Käfer vorstellte. In welchem Umfang die Aufführungen seiner Werke nach dessen Weggang aus Karlsruhe fortgesetzt wurden, konnte bisher nicht abschließend geklärt werden, da seine Musik nahezu vollständig verschollen ist und Archivalien nur ungenügend Aufschluss darüber geben.
Trotz der unbestrittenen Dominanz der Kirchenkantate hat die süddeutsche Musiklandschaft auch weltliche Kantaten hervorgebracht. Zur Veranschaulichung dienten Helen Geyer (Weimar-Jena) die „italienischen“ Kantaten Johann Melchior Molters, welche er zur Zeit seiner Anstellung am Hof in Karlsruhe verfasste. Naturerscheinungen als Textgrundlage und eine stark lautmalerische wie verzierungsreiche Kompositionsweise grenzten diesen Typus der Kantate deutlich von dem der geistlichen ab. Sarah-Denise Fabian (Heidelberg) nahm sich anhand überlieferter Personalakten von Kirchenrat und Hofkapelle sowie von erhaltenem Notenmaterial der Frage an, inwiefern sich die Tatsache, dass ein Großteil der im 18. Jahrhundert am württembergischen Hof verpflichteten Musiker katholisch war, auf die Produktion protestantischer Kantaten auswirkte. Dem interdisziplinären Anspruch der Tagung wurde der Vortrag von Nikolai Ott (Tübingen) zu den beiden Stuttgarter Kantatenjahrgängen von Georg Eberhard Duntz durch eine betont am musikalischen Befund orientierte Herangehensweise gerecht. Mit einer gerade entstehenden digitalen Sammlung stellte Silvia Maurer (Stuttgart) ein nützliches Instrument für die Erforschung südwestdeutscher Kirchenmusik vor. Auf der Internetpräsenz des Landeskirchlichen Archivs werden die in dem Zeitraum zwischen 1723 und 1850 entstandene Abschriften von Kantaten, Arien, Messen und anderen geistlichen Werken aus dem Bestand der Schorndorfer Stadtkirche kostenfrei zur Verfügung gestellt.
Einen Höhepunkt bildete das die Tagung begleitende Konzert unter dem Titel „Von Störl bis Welter – Klingende Beispiele aus dem Kantatenschaffen im Südwesten 1700–1770“. Studierende und Alumni boten Einblicke in das Schaffen von Komponisten, deren Namen die Konzertprogramme sonst eher selten zieren. Hervorragend musiziert wurden im Rahmen des außergewöhnlichen und ansprechenden Konzerts Werke von Molter, Störl, Duntz, Simon, Frauenholtz, Glaser, Welter und die in Stuttgart entstandene Kantate Georg Philipp Telemanns TVWV 1:930. Besondere Erwähnung verdient Cosima Oberts (Stuttgart) informative und ausgefeilte Moderation, die maßgeblich zum Erfolg des Abends beitrug. Die Erkenntnisse zur Kantate in Südwestdeutschland und zum Transfer mitteldeutscher Musik etwa von Telemann und Erlebach lassen hoffen, dass dieses Format fortgesetzt wird. Ein Tagungsband wird die Ergebnisse dokumentieren.