Authenticity versus Improvisation in the Philosophy of Music?
Bern, 19.-20.05.2017
Von Livio Marcaletti, Wien – 19.12.2017 | Die Tagung bot Gelegenheit für einen lebendigen Gedankenaustauch zwischen Philosophen und Musikwissenschaftlern über die Begriffe Authentizität und Improvisation. Die Musikphilosophie verwendet sie üblicherweise, um Aufführungen zu beschreiben und zu kategorisieren. Improvisation als Spontaneität und Freiheit der Aufführenden in verschiedenen Bereichen – vom Generalbass und Ornamenten der Barockmusik über Standard Jazz bis zur freien Improvisation – stellt ein philosophisches Problem dar, wenn man die Authentizität eines solchen Ereignisses bewerten will, da übliche Kategorien (Authentizität als Konformität mit der Intention des Komponisten, wie sie etwa Peter Kivy beschreibt) kaum verwendbar sind.
Die teilnehmenden Philosophen suchten neue Wege, um die freie Improvisation mit passenden Ansätzen zu analysieren. Marcello Ruta (Bern) ging vom Unterschied zwischen Improvisation als klingendem Phänomen (theoretisch wiederholbar, wenn zwei Performer dieselbe Folge von Klängen aufführen) und als einzelnem Ereignis (nicht wiederholbar) aus, um die freie Improvisation von anderen Live-Performances zu unterscheiden. Die Begriffe Code und Programm von Niklas Luhmann erlauben, die freie Improvisation als vom vorhandenen musikalischen Material nicht normierte, sich selbst programmierende und autonome Performance zu charakterisieren, woraus sich eine konsequente Unterscheidung von anderen Live-Aufführungen ergibt. Annabel Colas (Bern) diskutierte, inwiefern die ontologischen Kategorien von Type und Token im Zusammenhang der freien Improvisation noch anwendbar sind. Problematisch ist, dass Types üblicherweise durch mehrere Tokens instanziiert werden. Dies ist bei freien Improvisationen in der Regel nicht der Fall. Colas argumentierte, dass man Improvisationen dennoch ontologisch als Typen auffassen kann.
Die Unterscheidung zwischen Type und Token versuchte auch Caterina Moruzzi (Nottingham) anhand der Musical Stage Theory zu bewältigen. Diese Theorie überbrückt die Kluft zwischen Werk und Performance: Werke sind Aufführungen, die miteinander durch privilegierte Relationen (z. B. die Wiederholbarkeit) verbunden werden können und ihre eigene Authentizität innehaben. Dies gilt auch und besonders für Improvisationen. Neben work-as-performance bleibt work-as-construct in unserer linguistischen Einstellung als Bezugnahme auf das Komponierte (z. B. im Satz „die Hammerklaviersonate wurde 1819 komponiert“). Daraus ergibt sich, dass die Musical Stage Theory Improvisation und Authentizität in Einklang mit der Ontologie des musikalischen Werkes bringt.
In weiteren philosophische Ausführungen über Improvisation und Authentizität schlägt Alessandro Bertinetto (Udine) schlagen vor, Authentizität als Treue zum Augenblick („Being true to the moment“) zu betrachten. Auf Griechisch bedeutet authentikós „selbstgemacht“, authentein „selbst machen“, daher sei Improvisation aus einer etymologischen Perspektive an sich authentisch. Falsch sei hingegen, dass musikalische Authentizität in der Treue zum musikalischen Werk bestehe: Musikwerke können nicht ohne irgendeine Veränderung aufgeführt werden, sondern jede Aufführung verändert das Werk rückwirkend. Da der Akt der Performance und damit die Improvisation paradigmatisch für die musikalische Erfahrung sind, kann Authentizität nur eine improvisatorische sein.
Eine divergierende Position vertrat Julian Dodd (Manchester) in seiner Keynote über „Authenticities and Normative Conflict“, in der er für die Zentralität des musikalischen Werkes plädiert und zwei mögliche Arten von Authentizität vorschlägt: score-compliance und interpretive authenticity. Während erstere eine achtsame Ausführung der Anweisungen in der Partitur darstellt, sieht letztere dort Abweichungen vom musikalischen Text vor, wo ein tieferes Verständnis des Werkes dies verlangt. Ein gutes Beispiel ist die Reprise im 1. Satz der 5. Symphonie von Beethoven, wo das Fanfaren-Thema aus technischen Gründen von den Hörnern in die Fagotte wandert (die Naturhörner können es in der neuen Tonart nicht mehr spielen), und bei einer heutigen Aufführung die Fagotte durch moderne Hörner ersetzt werden, damit die Idee der Fanfare respektiert wird. Christoph Haffter (Basel) problematisierte die Idee der Authentizität als Treue zu einem Werk bei einer Improvisation. Theoretiker der Musikpraxen müssen hingegen auf jedwede Sorge um Authentizität und Treue zum Werk oder Komponisten verzichten, denn die Essenz der Musik liegt in der Einmaligkeit der Aufführung. Authentizität kann jedoch wiederum eine Rolle spielen, indem sie als Ausdruck der Subjektivität und als Weg zum Selbstverstehen gesehen wird.
Die Tagung wurde von zwei weiteren Keynotes umrahmt. Roger Pouivet (Nancy) hob die doppeldeutige Natur der Tonaufnahmen hervor, die eine Aufführung aufnehmen oder eine Improvisation in Form eines Werkes fixieren können. Diese Doppeldeutigkeit verkompliziert die Anwendung des Begriffs „Authentizität“ auf diejenigen Tonaufnahmen, die als Werk und nicht als Wiedergabe einer Performance zu betrachten sind. Bastien Gallet (Strasbourg/Mulhouse) stellte die Freiheit der Improvisatoren infrage, die in der zeitgenössischen Musik oft gesteuert und beeinflusst wird, wie die Debatte zwischen bedeutenden Komponisten des 20. Jahrhunderts wie etwa John Cage und Pierre Boulez zeigt. Ist der Improvisator wirklich frei?, fragte sich Gallet, und seine Frage könnte als Anregung für weitere Ausführungen und Tagungen gelten.
Zu dieser lebendigen philosophischen Debatte haben die musikwissenschaftlichen Vorträge mit bisher im musikphilosophischen Diskurs vernachlässigten oder weniger präsenten Repertoires, kompositorischen, musiktheoretischen und aufführungspraktischen Ansätzen beigetragen. Michael Dodds (Yale) beleuchtete die Rolle der Improvisation in Orgelmusik der römisch-katholischen Liturgie zwischen Mittelalter und Barock. Die wenigen erhaltenen notierten Kompositionen gelten eher als Muster für die tägliche Improvisation, die eine Menge unterschiedlicher Faktoren mit einbezog: Fest, Modus, Funktion, Gattung usw. Die sonst übliche Beziehung zwischen Komponisten, Performer und Publikum gilt hier nicht, denn die Organisten improvisieren und reagieren auf externe Anregungen in einer Art Spiel mit Zug und Gegenzug (z. B. wenn sie Aktionen der Zelebranten begleiten oder in alternatim mit dem Chor oder mit den Gläubigen spielen). Peter Kivys Kategorien sind darum nicht mehr anwendbar: Der Begriff Authentizität kann sich nur auf die religiösen Autoritäten und die Rolle der Ecclesia beziehen. Sie wird zur aufführenden Komponente in einer musikalischen Dreifaltigkeit, bei der Organisten die Rolle der Komponisten übernehmen und Gott die des Publikums. Improvisation spielt eine wichtige Rolle auch in der Vokalmusik, bis zum scheinbar widersprüchlichen Begriff von „wesentlicher“ Ornamentik. Livio Marcaletti (Wien) skizzierte die longue durée der Ornamentik als unentbehrliche Modifizierung einfacher melodischer Linien, nicht nur im weltlichen, sondern auch im geistlichen Repertoire, wie sie in der deutschsprachigen Gesangsdidaktik zwischen dem 17. Und dem 19. Jahrhundert dargestellt wird. Ornamente gelten als „Salz der Melodeyen“ (Printz 1678), während viele aufgeschriebene Melodien blosse „Skelette, die Sänger bzw. Sängerinnen durch angemessene Ornamente vervollständigen müssen“ sind (Gamucci 1865). Die deutsche Unterscheidung zwischen „wesentlichen Manieren“ und „willkürlichen Veränderungen“, wie etwa von Johann Joachim Quantz und Johann Adam Hiller formuliert, weist auf verschiedene Stufen der Modifizierung eines Werks hin, das allerdings nie genau wie aufgeschrieben aufzuführen ist. Notentexttreue mündet darum in eine besonders ‚un-authentische‘ Aufführung, die sehr weit von der damaligen Ästhetik und Aufführungspraxis entfernt ist.
Die improvisatorische Freiheit, sowohl in der vokalen als auch in der instrumentalen Musik, benötigt Muster, Gewohnheiten und Regeln, um nicht zur totalen Willkür zu werden. Katrin Eggers (Basel) und Michael Lehner (Bern) beleuchteten die doppeldeutige Natur der Improvisation, die in Czernys Worten mit einem englischen Garten verglichen werden kann: Scheinbar vom Zufall ausgestaltet, ist er Produkt menschlicher Arbeit. Die Gattung der Fantasia um 1800 widerspiegelt eine solche Ambivalenz, als aufgeschriebenes Werk, das die Extemporaneität einer Improvisation nachahmt. Die Longue durée der Improvisation in der Instrumentalmusik bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war Thema des Vortrags von Andrew Wilson (Basel). Die traditionelle Musikgeschichtsschreibung neigt dazu, die improvisatorischen Praxen bereits in den 1840er Jahren als ausgestorben zu betrachten, bis sie plötzlich um 1915 in freien Passagen einer aleatorischen Musik avant la lettre wieder auftauchen. In der Tat lebt Improvisation am Klavier oder an der Orgel ununterbrochen fort. Wilson zeigte Beispiele von Kompositionen, die sich in eine Grauzone zwischen natürlicher Improvisation und künstlicheren und komplexeren aufgeschriebenen Kompositionen legen. Erwin Schulhoffs Optimistische Komposition ist das Ergebnis einer extemporären Performance, teilweise ins Gedächtnis eingeprägt, als Fantasia über zwei (vorkomponierte) Melodien. In gewissen Fällen greift die rhythmische Freiheit auf Barockmusik zurück, wie etwa in seinem Klavierstück 1, das an eine barocke Prélude non mesure erinnert. In den Worten des Komponisten fallen „Taktstriche, Takt und Vortragsbezeichnungen […] hier aus dem Grunde weg, um die Freiheit der Aufführung möglichst unbehindert zu lassen.“
Zum musikalischen Teil der Tagung hat ein Concert-Workshop vom Trio Inniger-da Silva-Spitzenstaetter am Ende des ersten Tages beigetragen. Im Dialog mit ihrer Mentorin Franziska Baumann (Professorin für Improvisation an der HKB), dem Studiengangleiter Raphael Camenisch und dem Publikum dachten sie über die Mechanismen nach, die hinter einer freien Improvisation stecken, von denen sie einige Beispiele demonstrierten. Die Debatte bei dieser Gelegenheit sowie am Ende der gesamten Tagung zeigte, dass der fachübergreifende Ansatz zum Thema „Authenticity and Improvisation“ neue Perspektiven liefert, welche eine gegenseitige Bereicherung für beide Fächer darstellen.