Musikwissenschaft: Generationen, Netzwerke, Denkstrukturen
Oldenburg, 16.-17.01.2015
Von Marleen Hoffmann, Detmold/Paderborn – 10.04.2015 | Bei der interdisziplinären Tagung „Musikwissenschaft: Generationen, Netzwerke, Denkstrukturen“ handelt es sich um eine Fortführung und Vertiefung eines Symposiums der Fachgruppe Nachwuchsperspektiven der Gesellschaft für Musikforschung, welches auf der Jahrestagung 2013 in Dresden stattfand. Die OrganisatorInnen Anna Langenbruch (Oldenburg), Ina Knoth (Hamburg), Moritz Kelber (Augsburg) und Sebastian Bolz (München) hatten sich zum Ziel gesetzt, eine soziologisch und historisch fundierte Wissenschaftsforschung anzustoßen, nach den theoretisch-methodischen Prinzipien musikwissenschaftlicher Wissenschaftsforschung zu fragen und die Interaktion von Forschung und Gesellschaft näher zu beleuchten.
Nach den Grußworten von Katharina Al-Shamery (Präsidentin der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg) und Melanie Unseld (Prodekanin der Fakultät III der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg) sowie der Einführung in das Tagungsthema durch die OrganisatorInnen widmeten sich im ersten Panel „Generationen und Netzwerke“ vier Vorträge verschiedenen historischen und aktuellen Forschungsansätzen sowie deren Verbreitung durch Schulen und deren Förderung durch formelle und informelle Netzwerke. Henry Hope (Oxford) erläuterte die von Friedrich Gennrich in seiner Schrift Die Straßburger Schule für Musikwissenschaft (1940) beschriebenen Merkmale akademischer Schulbildung und kam zu dem Schluss, dass sich Gennrich als Haupterbe der Straßburger Schule legitimieren wollte. Gennrich gelang es laut Hope aber nicht, eine eigene ‚Frankfurter Schule‘ als Professor an der Universität Frankfurt am Main aufzubauen, da seine Arbeiten wenig Nachhall bei seinen SchülerInnen fanden. (Der Titel des Vortrages „Friedrich Gennrich und die ‚Frankfurter Schule‘“, unter der eine Gruppe von PhilosophInnen und WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen, die die Kritische Theorie begründeten, verstanden wird, war etwas irreführend.) In ihrem Vortrag „Christian Kadens ‚Wanderung zwischen den Welten‘ – Oral History und die Fachgeschichte der Musiksoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin“ stellte Lisa-Maria Brusius (Oxford) die Methode des Erinnerungsinterviews mit einem Zeitzeugen vor. Am Fallbeispiel ihres im Herbst 2014 geführten Interviews mit Christian Kaden wies sie auf die Problematik dieser Methode in der Wissenschaftsforschung hin, da sie als Wissenschaftlerin einen anderen Wissenschaftler und somit Experten als Zeitzeugen befragte. An einzelnen Beispielen zeigte Brusius, dass Kadens Aussagen seine Selbstverortung in und Abgrenzung von wissenschaftlichen Netzwerken und Denkstilen widerspiegeln. Die Konzeption des Projekts Fachgeschichte der deutschsprachigen Musikwissenschaft, angesiedelt amMax-Planck-Institut für empirische Ästhetik, erläuterte Annette van Dyck-Hemming (Frankfurt a. M.). Ziel des Projektes ist es, eine systematische und historisch-kritische Sammlung fachgeschichtlichen Wissens in Form einer Datenbank mit Informationen zu Personen, Institutionen, Themen, Methoden und Medien der Musikwissenschaft im Zeitraum 1810 bis 1990 aufzubauen. Da die Datenbank für die Forschung über die musikwissenschaftliche Fachgeschichte nutzbar gemacht werden soll, hofft das Projektteam auf Anregungen von KollegInnen. Michael Custodis (Münster) zeichnete anhand der erfolgreichen Gründung der Musikgeschichtlichen Kommission im Jahr 1953 und der gescheiterten Einrichtung eines Max-Planck-Instituts für Musik in den 1970er Jahren nach, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit aus Forschungsschwerpunkten geförderte Institutionen werden können.
Im zweiten Panel „Sprachen und Kulturen“ wurden die Auswirkungen der Sprachbarrieren und der verschiedenen nationalen Forschungstraditionen auf den internationalen Dialog innerhalb der Musikwissenschaft hinterfragt. Am Beispiel der Bartók-Forschung wies Michael Braun (Regensburg) nach, dass Vokalmusik einer ‚Randsprache‘, wie die Cantata profana von Béla Bartók, unabhängig von ihrem ästhetischen Wert und der internationalen Anerkennung des Komponisten, überwiegend nur innerhalb der nationalen Musikwissenschaft erforscht wird. Diese Forschung wird, wenn sie nicht in eine Breitensprache übersetzt wird, wiederum nur national wahrgenommen und findet kaum Eingang in den internationalen Diskurs, weshalb es zu Diskrepanzen im Forschungsstand kommt. Maria Bychkova (Hannover) untersuchte die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der heutigen deutschen und der russischen Exilforschung im Hinblick auf die Emigration von MusikerInnen aus dem russischen Reich nach Berlin in den 1920er Jahren. Während die russischen ForscherInnen laut Bychkova sich einen Teil der eigenen Kultur wiederaneignen wollen und nach den Gründen für den Weggang aus der Heimat fragen, werden die russischen EmigrantInnen aus deutscher Sicht als etwas Fremdes betrachtet, und die Beweggründe für die Wahl Deutschlands als Exilland rücken in den Fokus. Carolin Krahn (Wien) diskutierte die Chancen und Schwierigkeiten von nationalen musikwissenschaftlichen Forschungsverbänden in Bezug auf den internationalen Austausch und plädierte für mehr Kosmopolitismus in der universitären Ausbildung. Die erste Podiumsdiskussion zum Thema „Kommunikation Macht Musikwissenschaft? Ein- und Ausgrenzung von Wissen“ mit Susanne Binas-Preisendörfer (Oldenburg), Michael Braun, Michele Calella (Wien), Catherine Herbin (Oldenburg), Franziska Hohl und Jens Loenhoff wurde von Studierenden der Universität Oldenburg im Rahmen eines Seminars vorbereitet. ProfessorInnen verschiedener Fächer diskutierten gemeinsam mit NachwuchswissenschaftlerInnen über die Ausgrenzungsmechanismen der Sprache und des kulturellen Kapitals innerhalb des Faches und die Anschlussfähigkeit der musikwissenschaftlichen Terminologie an die jüngere Generation und die Gesellschaft.
Der zweite Tag begann mit dem Panel „Denkstrukturen und Wissenskonzepte“, in dem Jens Loenhoff (Essen) zunächst den – wie sich im Laufe der späteren Diskussionen herausstellen sollte – anschlussfähigen Begriff des impliziten Wissens und dessen Machtanspruch darlegte. Anhand von drei Beispielen veranschaulichte Andreas Domann (Köln), wie im 19. und 20. Jahrhundert einzelne musikalische Formen als Abbild von gesellschaftlichen Phänomenen gedeutet wurden. Dieses Analogiedenken, bei dem die Kunst eine Erkenntnis über die Wirklichkeit vermitteln soll, hält Domann wissenschaftstheoretisch für problematisch, weil es von politischen Prämissen und ideologischen Vorannahmen ausgeht. Anschließend stellte Franziska Hohl (München) ihre Auswertung von Interviews und schriftlichen Beiträgen von und mit MusikerInnen und musikalischen Fachleuten vor, anhand derer sie die Versprachlichung des Phänomens der musikalischen Improvisation unter Bezugnahme auf Bruno Latour untersuchte. Karina Seefeldt (Hannover) beleuchtete die Problematik von Interdisziplinarität unter den gegebenen Rahmenbedingungen von disziplinär organisierten Instituten und das Konfliktfeld zwischen sich widersprechenden disziplinären und interdisziplinären Forschungsmethoden am Beispiel musikwissenschaftlicher Genderforschung.
Das letzte Panel wandte sich dem Thema „Öffentlichkeiten und Medien“ zu, in dem vor allem der kritische Umgang mit Medien und die Beeinflussung der Öffentlichkeit durch medial verbreitete Inhalte diskutiert wurde. Ausgehend von der Frage „Musikwissenschaft im digital turn?“ stellte Kristina Richts (Detmold/ Paderborn) die verschiedenen Projekte zur digitalen Musikedition und Musikcodierung, die am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/ Paderborn beheimatet sind, vor. Sie plädierte dabei für die Nutzung digitaler Medien und für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der Musikwissenschaft, der Informatik und Bibliotheken bzw. Archiven. Elisabeth Treydte (Hamburg) präsentierte die mittels Diskursanalyse gewonnenen Ergebnisse ihrer Untersuchung der Reihe „Porträt“ in den Jahrgängen 1984 bis 2014 der Neuen Zeitschrift für Musik. Ihren Fokus legte sie auf die Unterschiede in der Beschreibung von Komponistinnen und Komponisten und zog den Schluss, dass komponierende Frauen in dieser Zeitschrift bis heute marginalisiert werden. Als ‚Ohrwurmforscher‘ hat Jan Hemming (Kassel) bereits einige Erfahrung mit öffentlichen Medien gesammelt, beleuchtete Vor- und Nachteile dieser Art von Medienpräsenz und gab Tipps, wie ForscherInnen sich im Umgang mit Medien am besten verhalten sollten. Zu der abschließenden Podiumsdiskussion lieferte Ulrike Böhmer (Hannover) das Impulsreferat, um mit Michael Custodis, Andreas Domann, Gerald Lind (Graz) und Melanie Unseld unter der Moderation von Moritz Kelber zu diskutieren, wozu Wissenschaftsforschung betrieben werden sollte. Dabei wurden Fragen zur Präsenz der Musikwissenschaft in der Öffentlichkeit, zur politischen Verantwortung, zur Methodik und zum Umgang mit Interdisziplinarität und den digitalen Medien aufgeworfen.
Den OrganisatorInnen dieser Tagung ist es gelungen, den Dialog zwischen den verschiedenen Generationen von MusikwissenschaftlerInnen zu fördern. Nicht nur in den Podiumsdiskussionen waren Studierende und Promovierende genauso wie etablierte WissenschaftlerInnen vertreten, sondern auch in vielen Referaten wurden Ergebnisse aus Abschlussarbeiten und Dissertationsprojekten präsentiert. Ein Interesse an Wissenschaftsforschung besteht nicht von ungefähr gerade in der jungen Forschergeneration, die sich selbst noch innerhalb der Disziplin und Wissenschaftslandschaft zu orientieren und zu verorten versucht. Positiv hervorzuheben, ist außerdem die Resonanz in den Medien (u. a. SWR2, Deutschlandfunk, NDR Kultur), durch die die Wissenschaft mit der Öffentlichkeit in einen Dialog treten kann. Bedauernswert ist hingegen die geringe Beteiligung von MusiksystematikerInnen und -ethnologInnen. Wünschenswert wäre es deshalb, die durch diese Tagung gelungene Anregung von Wissenschaftsforschung in der historischen Musikwissenschaft in einem nächsten Schritt auch auf diese Bereiche auszuweiten. Erst dann lässt sich das Versprechen einlösen, nicht nur alle Generationen an einen Tisch zu holen, sondern auch möglichst viele musikwissenschaftliche Netzwerke nachzuzeichnen und den mitunter sehr unterschiedlichen Denkstrukturen innerhalb der Disziplin auf den Grund zu gehen.
Nähere Informationen zur Tagung finden Sie unter: https://denkstrukturen.wordpress.com/. Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist geplant.