Übergänge: Neue Wege zur inszenierten Musik
Stuttgart, 04.-08.06.2014
Von Lea Roller, Stuttgart – 10.04.2015 | Vom 4. bis zum 8. Juni 2014 fand in Stuttgart der Kongress für Stimmkunst und neues Musiktheater „Lost & Found: Stimme. Musik. Szene“ statt, ausgerichtet vom Studio für Stimmkunst und Neues Musiktheater der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart in Kooperation mit „Der Sommer in Stuttgart“ (Musik der Jahrhunderte, SWR, Akademie Schloss Solitude) und dem „Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt“. Die Leitung teilten sich Angelika Luz (für das künstlerische Programm) sowie Andreas Meyer und Christina Richter-Ibáñez (für die wissenschaftlichen Anteile).
Der Kongress wartete während seiner fünftägigen Dauer mit einem umfangreichen und vielfältigen Programm auf, bestehend aus Konzerten, Performances und Musiktheaterdarbietungen, Masterclasses sowie einem wissenschaftlichen Symposium, Künstlergesprächen und einer abschließenden Podiumsdiskussion. Im Mittelpunkt stand die Verbindung zeitgenössischer Musik und Szene mit all ihren Möglichkeiten. Nach anderthalb vorwiegend musikalisch gestalteten Kongresstagen fand am 6. Juni das wissenschaftliche Symposium „Übergänge: Neue Wege zur inszenierten Musik“ statt, auf dem exemplarische Phänomene der Übergänge zwischen Stimme, Musik und Szene von Musik-, Literatur-, und Theaterwissenschaftlern thematisiert wurden.
Den Auftakt machte am Vorabend der Festvortrag „Die Kunst des Übergangs. Merkliche und unmerkliche Neuansätze im Musiktheater seit 1950“ von Jörn Peter Hiekel (Dresden), der einen historischen Überblick unterschiedlichster Ansätze von Übergängen im neueren Musiktheater thematisierte und diese Öffnung mit dem häufig eher konservativen Opernbetrieb kontextualisierte. Die Vorträge am Haupttag eröffnete Andreas Meyer (Stuttgart) mit einem Beitrag unter dem Titel „Übergänge. Musikalische Lyrik wird szenisch“. Thematisiert wurde die Verflüssigung der Grenzen zwischen Liederzyklus und Szene, Figuren, Instrumenten und Stimmklang, bewegten und unbewegten Körpern zunächst am Beispiel von George Crumbs Ancient Voices of Children. Das dialektische Verhältnis von Lyrik und Drama, in dem Lyrik als subjektive, stumme Innerlichkeit gewissermaßen aus sich heraus tritt, verwischt aber bereits in einem Werk wie Schönbergs Pierrot lunaire oder viel später – auf seiten des Musiktheaters – in Beat Furrers Wüstenbuch. Die heikle Verbindung von Stimme und Identität (oder auch Identitätsverlust), oft unter Einbeziehung lyrischer Texte oder Textcollagen anstelle genuin dramatischer bzw. narrativer Vorlagen, scheint für das „postdramatische“ Musiktheater geradezu konstitutiv.
Der Vortrag von Britta Herrmann (Münster), „,Wähle ich Musik, erhalte ich Theater‘. Hör-Szenen aus Schrift und Stimme, Klang und Medium, Zeit und Raum“ befasste sich mit John Cages 45' for a Speaker, dessen Text durch graphische Strukturen und Regieanweisungen für Gesten und Geräusche selbst zur Partitur wird. Hierbei steht „das Andere“ in der Musik im Vordergrund: Materialität von Klängen, Performativität, Schrift und Sprache. In der Hörspielfassung von Heinz von Cramer und Ernst Jandl, der auch die deutsche Übersetzung verfasste, werden die Stimmen durch den Einsatz unterschiedlicher Stimmmasken sowie Geräusche – und mit Mitteln der Stereophonie – zu Protagonisten im Raum.
Der Stellenwert formaler Rituale im Übergang zwischen konzertanten und musiktheatralischen Formen ist, wie Arne Stollberg (Basel) in seinem Vortrag „Strukturen des Rituals. ,Übergänge‘ zwischen Musiktheater und Instrumentalmusik bei englischen Komponisten von Britten bis Birtwistle“ feststellte, als genuin britische Traditionslinie zu verstehen. In Brittens Church Parable Curlew River agieren sowohl Sänger als auch Instrumentalisten performativ, wobei der Ablauf nach genauem Skript, „formalized as a ritual“, erfolgt. Ähnliches lässt sich in Birtwistles Instrumentalkompositionen Tragoedia, Secret Theatre und Ritual Fragment for Chamber Orchestra feststellen, in denen die Instrumente als dramatische personae im Sinne eines „instrumental roleplay“ auftreten. Zum Beispiel ist die Zuweisung ritualisierter Plätze im Bühnenraum bereits eine szenische Aktion. Der theatralische Aspekt dieses „Instrumentalen Theaters“ ist hierbei Ausdruck der Musik, niemals aber deren Ausgangspunkt. Das Ritual wird eher zum „portrait of a ritual“, abstrakte rituelle Strukturen, deren Gründe verschleiert bleiben und die so einen Mythos kreieren. Anders als bei Britten wird das Ritual bei Birtwistle gattungsübergreifend und zum Mittel der Organisation musikalischer und szenischer Abläufe allgemein.
In ihrem Vortrag „Melodramatisch? Zum Verhältnis von Musik und gesprochenem Text im neueren Musiktheater“ bezog sich Christina Richter-Ibáñez (Stuttgart/Tübingen) anhand mehrerer Beispiele von Olga Neuwirth, Rolf Riehm und Markus Hechtle auf einen verstärkten Einsatz der Sprechstimme in zeitgenössischer Musik, der eher als Nebeneinander zur Musik denn als szenisch-theatralisches Element fungiert. Ausgehend von der Frage, ob eine melodramatische Behandlung von Prosatext Übergänge zu Szenischem verhindert, konnten Mauricio Kagels Phonophonie. 4 Melodramen und Aus Deutschland. Eine Liederoper zeigen, dass eine Beeinflussung der Ebenen untereinander, Übergänge zwischen Gesang und Sprache, Leben und Tod, Musik und Szene durchaus möglich sind. So kann das Melodramatische zum Übergang zwischen Bühne und Hör-Raum avancieren.
Die Inszenierung der Stimme stand im Mittelpunkt von Sonja Dierks' (Marburg) Vortrag „Björks Stimme und das Prinzip der Performance“, in dem sie auf das herausragende Element der Stimme der Popkünstlerin einging. Björks experimenteller, oft unkontrollierter Umgang mit Stimme, der zuweilen Stimmschönheit hintan stellt, zerschlägt immer wieder die textliche Semantik zu Gunsten von Vokalgesang, der lediglich Satzfetzen und Schlagwörter verständlich macht und so zu einer Dekonstruktion der Sprache durch Musik führt. Björk legt sich dabei stilistisch nie fest. Der akustische Kern ihrer stets neu inszenierten Stimmperformance lässt sich kaum kategorisieren. Durch inszenierte Intimität wird so beispielsweise trotz kognitiver Distanz Bezug zur Körperlichkeit genommen.
Christa Brüstles (Graz und Heidelberg) Vortrag „Inszenierungsformen im Konzert“ befasste sich mit Konzepten, die das ritualisierte Konzert selbst als konventionelle Inszenierung reflektieren. In gewisser Weise lässt sich das traditionelle Konzert selbst als Form des Musiktheaters verstehen, die das Musikhören inszeniert. Auf dieser Grundlage kann mit elektrischer Verstärkung, Kopfhörerkonzerten oder dem Effekt eines unerwarteten, nicht zum gesehenen Instrument passenden Klanges gespielt werden. Im Verhältnis Musik und Raum wird, wie in Benedict Masons Music For European Concert Halls,der Konzertraum selbst zum Instrument. Die Inszenierung des Konzerts als Theater spiegelt sich in instrumentalem Theater oder auch der komödiantischen Reflexion des rituellen Konzertverhaltens wider. Im Bereich der Konzert- und Videoinstallation werden dann Genregrenzen überschritten, wodurch Musik und Raum zur untrennbaren Einheit verschmelzen. Insgesamt kann die Reflexion des Kulturrituals Konzert so neue Wahrnehmungsräume erschaffen.
Mit der medialen Stilisierung Ruedi Häusermanns zum „Miniaturisierer, Leisetöner und Verschrobenheitsgärtner“ (so in einer Kritik derNeuen Zürcher Zeitung) eröffnete Leo Dick (Bern/CH) seinen Vortrag „Stimme als musikszenisches Speichermedium. Die Vokale Erinnerungsmotivik in Ruedi Häusermanns ,Vielzahl leiser Pfiffe‘“. Dick hingegen attestierte Häusermann scharf kalkulierenden, ironischen Eklektizismus. Durch die Bipolarität seines Werkes „Vielzahl leiser Pfiffe“, das aus vier kabarettistisch anmutenden Umwegen und einem Konzert besteht, gewinnt das Konzert in der Abgrenzung eine neue, eigenständige formale Kraft. In beiden Teilen kommen die selben Requisiten, Kostüme, Akteure sowie sprachlichen, klanglichen und gestischen Elemente vor, was auf Wagner'sche Erinnerungs- und Leitmotivtechnik verweist. Gegenüber der publikums- und alltagsbezogenen Revue im ersten Teil bildet das Konzert im zweiten Teil eine aus den gleichen Elementen bestehende, durchkomponierte Struktur. Revue und Ritus werden zum Übergang, das Gewöhnliche wird kompositorisch transzendiert.
Den Abschluss des Symposiums machte David Roesner (Kent/GB) mit seinem Vortrag „Das Eigentümliche der Stimme. Die Theatralität ,gewöhnlicher‘ und ungewöhnlicher Stimmen im zeitgenössischen Musiktheater“. Thema war die Kategorisierung und Normierung von Stimmen, beeinflusst von der Orientierung am Markt. Die Vernachlässigung der Eigentümlichkeit individueller Stimmen zu Gunsten von klassischem Ausdruck oder der Ersetzbarkeit im Musical sind Fakt in den meisten Ausbildungsbiographien von Sängern. Im zeitgenössischen Musiktheater werden diese Tendenzen immer wieder durchbrochen, wenngleich die Ausführung meistens professionellen Sängern mit einer eben jenem normierten Klangideal geschuldeten Ausbildungsbiographie überlassen wird. In Musicals wie London Road oder Jerry Springer: The Opera wird eben jene stimmliche Hybridität thematisiert, und verschiedene Stimmidiome treten auch innerhalb einer Stimmpartie einander direkt gegenüber. So tritt nicht die Dichotomie von ausgebildeter und unverwechselbarer Stimme, sondern die hybride Stimme, die Mischung geschulter und ungeschulter Stimme, die Stimme als performatives Phänomen in den Vordergrund – Erwartungshorizonte werden unterminiert.
Die facettenreicheBeschäftigung mit den „Übergängen“ zur inszenierten Musik zeigte die Vielfaltund Verschiedenheit der Möglichkeiten von Kompositionen und ihrer Aufführung und zeichnete so ein umfassendes Bild der aktuellen Tendenzen von Musik und Szene. Die zahlreichen musikalischen Veranstaltungen des Kongresses sowie die zeitgleich zum Symposium stattfindenden Masterclasses konnten in diesem Sinne neue Impulse setzen und das im Symposium Angesprochene in der Praxis erfahrbar machen.