»Musiktheorie und Ästhetik« – XIII. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH)
Rostock, 04.-06.10.2013
Von Birger Petersen, Mainz – 15.12.2013 | Ästhetische Fragestellungen sind in der Auseinandersetzung mit Musiktheorie allgegenwärtig, ob in der Lehre oder Forschung, historisch oder systematisch und in allen Teildisziplinen. Die Thematisierung von Ästhetik im Rahmen des Jahreskongresses der GMTH in Rostock ist entsprechend nachvollziehbar – zumal sie das Fach in Richtung benachbarter Disziplinen zu öffnen vermag. Dabei kommt diesem Diskurs der Umstand entgegen, dass der Gegenstandsbereich der Ästhetik – von der allgemeinen Theorie der sinnlichen Wahrnehmung bis hin zu philosophischen und soziologischen Theorien der Kunst – ähnlich weit gefasst ist wie derjenige der Musiktheorie. Die in Rostock erörterten Fragen betrafen entsprechend das praktisch-pädagogische Handeln in der Musiktheorie im Verhältnis zur normativen Dimension der Ästhetik, aber auch zwischen wissenschaftlich-theoretischer Reflexion und Musik als ästhetischem Gegenstand.
Der Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie war nach Hamburg (2004) nunmehr zum zweiten Mal in Norddeutschland zu Gast; das Kongressthema spiegelte dabei auch die Infrastruktur der gastgebenden Hochschule für Musik und Theater Rostock, an der die Fächer Musiktheorie und Komposition eng aufeinander bezogen sind und die Realität musiktheoretischen Unterrichts immer auch im Verhältnis zu zeitgenössischem Komponieren nicht nur in den Curricula abbilden, sondern beispielsweise auch in der engen Kooperation beim jährlich stattfindenden Festival für Neue Musik in Mecklenburg-Vorpommern »Brücken«: Ästhetische Problemstellungen betreffen immer auch das Komponieren als zeitgenössische ästhetische Praxis.
Begrüßt wurden die Kongressbesucher vom Leiter der Abteilung Komposition und Musiktheorie der Rostocker Hochschule Jan Philipp Sprick, der die Hauptverantwortung für die Organisation der Veranstaltung trug, und der Präsidentin der GMTH Gesine Schröder; Jan Philipp Sprick oblag es dann auch, die Keynote des verhinderten Stefan Rohringer (München) vorzutragen, der unter dem Titel »Das Verstehen und die Erklärung einer musikalischen Phrase« Überlegungen zu Zuständigkeiten der Musiktheorie im Dialog mit den späten sprachphilosophischen Äußerungen Ludwig Wittgensteins anstellte. Einen fruchtbaren Kontrapunkt zu Rohringers Darlegungen hatte zuvor die erste Keynote des Kongresses gebildet, für die mit Georg W. Bertram (Berlin) einer der führenden Vertreter der Ästhetik in der Philosophie gewonnen werden konnte: Bertram arbeitete das Potential im Gegenüber von akademischer Ästhetik und musiktheoretischen Forschungsfragen und -methodologien heraus.
Auch der abendliche Vortrag Claus-Steffen Mahnkopfs (Leipzig), der sich an einer Systematik für Analyse, ästhetische Einschätzung und kulturelle Kontextualisierung des Meisterwerks versuchte, bewies die dargebotene Breite in den Plenumsvorträgen; Steven Rings (Chicago) verfolgte einen ähnlichen Ansatz, kam aber in seinen Überlegungen »Analysis and/as Aesthetics« auf der von ihm dargestellten Basis US-amerikanischer Analysepraktiken zu grundsätzlich anderen Perspektiven, die sich vor allem in der Wertschätzung visueller Prinzipien manifestiert. Mit Melanie Wald-Fuhrmann (Berlin) erörterte schließlich die Direktorin der Abteilung Musik des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik im Plenum mögliche Schnittstellen einer empirischen Rezeptionsästhetik und der Musiktheorie, insbesondere in den Teilgebieten Kognitionsforschung, Psychologie und Soziologie.
Angesichts fließender Übergänge zwischen den verschiedenen Aspekten des Kongressthemas hatte die Kongressleitung keine klar voneinander abgegrenzten Sektionen vorgegeben, sondern lediglich mögliche Themenfelder genannt; auf vielen früheren Jahreskongressen führte die thematische Begrenztheit der Sektionsvorgaben dazu, dass zahlreiche Beiträge meist von vornherein der freien Sektion zufallen mussten. Die für Rostock angenommenen Kongressbeiträge wurden letztlich thematisch gebündelt. Ein Großteil widmete sich dem Gegenstandsbereich der Ästhetik und der Frage, ob die Musiktheorie eher Kunstreflexion oder eine Theorie der sinnlichen Wahrnehmung leisten kann. So vermochte Cosima Linke (Freiburg) in ihrem Vortrag »Zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion: Zu Roth Sondereggers ›Ästhetik des Spiels‹« ein neues Licht auf Adorno zu werfen: In der differenzierten Anwendung der am literarischen Kunstwerk entwickelten Thesen Sondereggers auf eine Theorie der ästhetischen Erfahrung von Musik sowie auf Grundlagen der musikalischen Analyse kann Adornos »konstellatives Denken« für die Analyse fruchtbar gemacht werden.
Bemerkenswert erscheint die verstärkte Präsenz von Vertretern der anglo-amerikanischen Musiktheorie, da das Thema des Kongresses so stark wie schon lange nicht mehr ihren gegenwärtigen Diskursen entsprach, insbesondere im Bereich von Ästhetik und Werturteil und der Bedeutung normativer Ästhetik für die musiktheoretische Praxis. Andere Vorträge betrafen in erster Linie Fragen aus dem Bereich der Geschichte der Musiktheorie und diesbezüglichen Interferenzen zur Geschichte der Ästhetik: So unternahm Nathan Martin (Leuven) eine Neuinterpretation der Harmonielehre Rameaus, indem er anhand der praktisch orientierten Traktate Rameaus die zentrale Kategorie die ›phrase harmonique‹ aufarbeitete; Jürgen Blume (Mainz) erörterte an ausgewählten Beispielen aus einem Stabat mater-Manuskript Lignivilles von 1767 den pädagogischen Wert von Kanons für den Kontrapunktunterricht, und Florian Edler entwickelte brillant »Stil und Ethos als Wertungskriterien in der Kontrapunktlehre um 1850«, indem er anhand der Lehrwerke Cherubinis und Dehns mit Blick auf das Stilproblem klärte, wie sich ein ›alter Stil‹ im 19. Jahrhundert zur ›Prima pratica‹ verhält. Weitere Beiträge thematisierten Musiktheorie als gegenwärtige Kunsttheorie, so Sven Daigger (Rostock) in einem Beitrag zur Virtuosität im Schaffen Adriana Hölszkys.
Die beiden thematischen Sektionen des Kongresses verbanden ästhetische Fragestellungen mit Darlegungen zur Geschichte der Musiktheorie: Die Sektion »Musiktheorie und Ästhetik nach Moritz Hauptmann« thematisierte neben grundsätzlichen Überlegungen zur Musiktheorie bei Moritz Hauptmann (Michael Polth, Mannheim) die Rezeptionsgeschichte vornehmlich an der Münchner Musikschule in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Birger Petersen, Mainz, und Stephan Zirwes, Bern) sowie bei August Halm (Patrick Boenke, Wien). In der Sektion »Schema/Satzmodell« standen zwei verwandte musiktheoretische Diskurse im Mittelpunkt, die sich relativ unabhängig voneinander in der angloamerikanischen und deutschen Musiktheorie entwickelten. Nach einem Beitrag zu grundlegenden terminologischen Fragen (Jan Philipp Sprick, Rostock) wurde im Diskurs nach dem Verhältnis von ›Schema Theory‹ und Strukturanalyse sowie ihren Prämissen gefragt (Oliver Schwab-Felisch, Berlin, und Folker Froebe, Bremen). Parallel zu den thematischen Sektionen bot Nora Brandenburg (Rostock) einen Workshop zum Thema »Intonation – eine Geschmacksfrage?« mit Hörexperimenten und Stimmungsversuchen an.
Im Rahmen des Kongresses fand auch die Preisverleihung im 4. Aufsatz-Wettbewerb der GMTH unter dem Jury-Vorsitzenden Michael Polth (Mannheim) statt. Ein zweiter Preis ging an Sören Sönksen (Hannover), dessen Beitrag »Die Idee des stummen Fundamentes bei Rameau, Kirnberger und Sechter« in einer der nächsten Ausgaben der ZGMTH veröffentlicht werden wird. Erstmalig hat die GMTH auch einen künstlerischen Wettbewerb ausgeschrieben: Unter Bezugnahme auf ein Partimento Fedele Fenarolis sollte eine freie Bearbeitung wahlweise in einer historischen Stilistik, in der Auseinandersetzung mit der stilübergreifenden Kontinuität modellbasierter Improvisationstechniken bis hin zur Einbeziehung zeitgenössischer Kompositionstechniken erfolgen. Unter dem Jury-Vorsitzenden Birger Petersen (Mainz) wurden zwei zweite Preise Wendelin Bitzan (Berlin) und Jonathan Stark (Wien) sowie ein dritter Preis Robert Bauer (Freiburg) zugesprochen; ein erster Preis wurde in beiden Wettbewerben nicht vergeben.
Den Rahmen der Preisverleihung bildeten – neben der Uraufführung der im künstlerischen Wettbewerb prämierten Werke – ein unterhaltsamer Vortrag Hartmut Fladts über »Witz« als philosophische, ästhetische und musikalische Kategorie im 18. Jahrhundert und ein flammender Appell Frieder Reininghaus’ zum »Fall Eggebrecht«, dessen Thematisierung zum Titel seines Vortrags »Vitaminzufuhr für die Musiktheorie« nicht recht passen wollte. Ein weiteres Konzert im Rahmenprogramm bot Neue Musik u.a. von Claus-Steffen Mahnkopf (Kurtág-Cantus I), engagiert musiziert vom hochschuleigenen Neophon Ensemble.
Den Veranstaltern ist es im 13. Jahr der GMTH-Kongresse gelungen, einen neuen thematischen Akzent zu setzen, der mit gehöriger Interdisziplinarität den Fachdiskurs anzuregen vermag. Zu danken ist ihnen darüber hinaus für eine reibungslose Organisation des Kongresses und ein ansprechendes Rahmenprogramm.