Schreiben für das Kunstwerk der Zukunft. Textsorten, Strategien und Inhalte in Richard Wagners Briefen und Schriften
(Richard Wagner Schriften. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Festakt und Symposium zum Projektbeginn)
Würzburg, 14.-15.11.2013
Von Andreas Münzmay, Frankfurt am Main – 08.12.2013 | Das im Akademienprogramm mit einer Laufzeit bis 2028 angelegte Vorhaben einer Edition der Schriften Richard Wagners konnte unter Leitung von Ulrich Konrad 2013 an der Universität Würzburg die Arbeit aufnehmen. Dies wurde mit einem Festakt gefeiert und mit einem eintägigen wissenschaftlichen Symposium gewürdigt, welches auch jenseits von Antrags- und Begutachtungsverfahren die Relevanz des Vorhabens in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit eindrücklich vor Augen führte. Den Festakt nutzte Ulrich Konrad, um Dimension und Konzept zu erläutern: Voraussichtlich 229 zu edierende Titel summieren sich zu geschätzten 4000 Druckseiten. Eine chronologische Ordnung, wie sie schon Richard Wagner selbst in seinen Gesammelten Schriften und Dichtungen (GSD)vorgenommen hatte, könne gerade auch über Grenzen einer Textsortensystematik hinweg Bezüge der Schriften und Dichtungen untereinander deutlich werden lassen. Dazu soll die Form der Hybridedition in gedruckten Lesetextbänden, denen eine elektronische Textpräsentation mit ausführlichster textkritischer und genetischer Dokumentation und Kommentierung gegenübersteht, das Ihre beitragen. Konrads Ausführungen zur Editionsgeschichte der Wagner-Schriften, die mit ganz wenigen Ausnahmen historisch-kritischer Einzeleditionen bis heute nur in der von Wagner „inszenierten“ Form der GSD greifbar sind, unterstrich die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Erarbeitung dieses Korpus nachdrücklich. Wagner zu lesen möge anstrengend, mitunter abstoßend sein, so Konrad, aber umso weniger dürfe man ihm „im Modus intellektueller Unterwerfung“ begegnen.
Ganz im Sinne dieses Appells waren neun Referentinnen und Referenten gebeten, Wagners „Schreiben für das Kunstwerk der Zukunft“ in den Blick – und auch: in die Mangel – zu nehmen. Den Auftakt machte der Festvortrag des Hallenser Philosophen Jürgen Stolzenberg, dessen Re-Lektüre der drei Zürcher kunsttheoretischen Schriften der Jahre 1849 bis 1851 – Die Kunst und die Revolution, Das Kunstwerk der Zukunft und Oper und Drama – zu einem geradezu spektakulären Ergebnis gelangte: Unfraglich seien diese als Rechtfertigungsschriften, regelrecht als „Beweisführungen“ Wagners für seine Entwürfe von Künstlertum und Theaterkunst zu verstehen. Dabei sei Wagners geschichtsphilosophischer Entwurf jedoch nicht nur – wie bekannt – als eine Geschichte des seit der Antike fortgeschrittenen Verfalls der Kunst angelegt, dem nun durch eine Revolution im Geiste der Antike ein Kunstwerk der Zukunft entgegengesetzt werden müsse, das die „Einheit von Politik, Religion und Kunst“ wiederherstelle. Vielmehr führe, wie am Ende der ersten und am Beginn der zweiten Kunstschrift besonders deutlich werde, Wagner die Kategorie der Natur als universales, letztes, wirkliches, höchstes Prinzip und normative Instanz an. Wagner schreibe also eigentlich eine „Naturgeschichte des Kunstwerks“, welche das Kunstwerk der Zukunft als Ziel einer Natur-Evolution (und nicht in erster Linie einer Kultur-Revolution) erscheinen lasse: als die „Selbstobjektivierung der Natur“ im Schaffen des Menschen als jener Instanz, in der „die Natur sich ihrer selbst bewusst“ werde. Folgerichtig ende Der Ring des Nibelungen zwar mit dem Untergang der Kultur – aber auch mit dem Bleiben der Natur. Nach der Originalität dieses kunstphilosophischen Ansatzes Wagners sei, so Stolzenberg, allerdings dringend ebenfalls zu fragen, und er identifizierte als Quellen u. a. Feuerbach, Schelling und Rousseau.
Schreiben ist „Denken auf Papier“; nicht nur den „Text“ (eine von der konkreten Aufzeichnung abstrahierbare gedankliche Kategorie), sondern auch das Schreiben selbst gilt es zu verstehen. Dieses Anliegen, das einem Editionsprojekt sicherlich ein ganz vordringliches sein wird, brachte die Münchner Komparatistin Cornelia Ortlieb vor. Unter welchen Umständen, mit welchem Material, mit welchen Gesten wird geschrieben? Welche Rolle spielt das Kopieren und Exzerpieren im schaffensbiographischen Zusammenhang? Welche Sinndimensionen sind mit der Wahl des Schreibmaterials oder etwa mit graphisch-syntaktischen Zeichengebungen wie dem intensiven Einsatz von Gedankenstrichen oder (überflüssigen) Satzzeichen verbunden? Ortlieb demonstrierte an Beispielen Jean Pauls und Wagners die heuristische Leistungsfähigkeit solcher Fragestellungen. Nahtlos schloss daran das Referat von Margret Jestremski an, die zeigte, inwieweit Erfahrungen aus der (weitgehend abgeschlossenen) Wagner-Briefausgabe eine Basis für die Schriftenausgabe bilden könnten. Auch die Briefe seien keineswegs hauptsächlich – wie man sie traditionell gerne sah – als besonders ‚authentische‘ biographische Zeugnisse zu sehen, sondern vielmehr als eine in viele Typen auszudifferenzierende „Gattung eigenen Rechts wahrzunehmen“, als ein durchaus mit einer gewissen Öffentlichkeit rechnendes Medium der Gedankenentwicklung, der Selbstinszenierung, der Selbstvergewisserung, der Ausbreitung kunsttheoretischer Ideen. Briefeschreiben sei insofern für Wagner essenziell gewesen, und er habe dazu strategische Netzwerke von Bezugspersonen aufgebaut. Mehr als 350 erhaltene Briefentwürfe und die daran dokumentierbaren sorgfältigen Redaktionsprozesse untergraben zusätzlich die Vorstellung, Briefe gewährten direkte Blicke auf die ‚authentische‘ Person und ihre Befindlichkeiten. Viele Briefe, gerade auch die Briefe an Cosima Wagner, stünden fast wie ein „Zettelkasten“ in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausformulierung von Schriften und Werken.
Am Beispiel der Zürcher Exilzeit nahm daraufhin Eva Martina Hanke Wagners Konzept der „Freundschaft“ und sein System der „Freunde“ unter die Lupe, deren Funktion nach Wagners kunstrevolutionärer Vorstellung die bedingungslose, „liebende“ Unterstützung des Künstlers ist. Dass Wagner diese in verschiedenen Schriften formulierte Utopie – für sich selbst segensreich – in Zürich streckenweise verwirklicht sehen konnte, hatte, wie die Diskussionsbeiträge von Eckhard Roch und Christian Kaden ergänzten, aber nicht nur mit der kunstidealistisch-kommunistischen Gesinnung von „Freunden“ zu tun, sondern auch mit Traditionen des Mäzenatentums sowie schlicht mit Wagners Unverschämtheit bei der Mitteleinwerbung. Roch beschloss das Programm des Vormittags mit einer auf Watzlawik aufbauenden kommunikationstheoretischen Lektüre der bis fast zur Lächerlichkeit überschwänglichen wechselseitigen Liebes-, Treue- und Anbetungsbezeugungen im Briefwechsel zwischen Wagner und König Ludwig II. von Bayern. Die „empfindsame“ Kunstsprache (Stolzenberg und Konrad fragten indes nachher, ob sie nicht noch mehr als kunst- und privatreligöse denn als empfindsame zu begreifen sei), in der König und Künstler sich gegenseitig zum „Einzigen“, „Göttlichen“, „Allmächtigen“, „Erlöser“ u.v.m. wurden, habe Wagner ins Spiel gebracht; Ludwig II. habe sie bereitwillig aufgegriffen, bis hin zu einem „Rollentausch“ von „König und Untertan“ zu „Jünger und Meister“. En détail zeichnete Roch nach, wie Wagner Ludwig II. sogar das „Du“ unterjubeln konnte. Das Spiel der wechselseitigen uneingeschränkten Bejahung habe sich allerdings, wie spieltheoretisch erwartbar sei, nicht mehr beenden lassen („wie beim Wettrüsten, nur positiv“); konfliktträchtigere geschäftliche und atmosphärische Aushandlungen seien konsequenterweise an „Makler“, allen voran Pfistermeister, delegiert worden.
Den Nachmittag eröffnete der Vortrag des Berliner Altgermanisten Volker Mertens mit dem gegenüber dem Programm geänderten Titel „‚Mein Freund R…‘ Wagners Identitätskonstruktion der Pariser Zeit“. Die Pariser Zeit sei als Wagners Phase der „Findung der journalistischen Sendung“ zu verstehen, die Dresdner Zeit hingegen als diejenige der „Findung der nationalen Sendung“, die GSD wiederum als bewusste Identitätskonstruktion inklusive der Herstellung eines „Porträts des Künstlers als junger Mann.“ Die Pariser Arbeiten für die Revue et Gazette de Paris seien von hoher journalistischer und schriftstellerischer Qualität, und Wagner sei stolz darauf gewesen. Für die GSD habe er aber trotzdem gezielt so ausgewählt, dass die nationale Dimension seines Denkens, wie er sie schon in den Arbeiten für die Dresdner Abendzeitung (etwa die 1842er Revision der Pariser Novelle Une visite à Beethoven als Eine Pilgerfahrt zu Beethoven) herausgestellt hatte, zur Geltung kommen würde. Die wohlinszenierte Abkehr vom Französischen sei dazu eines der Mittel; die GSD seien gewissermaßen eine wagnersche „Meta-Edition“, eine erneute literarische Selbstinszenierung. Christian Kaden erbrachte mit soziologischen Methoden der Systemanalyse und anhand von charakteristischen Tagebucheinträgen Cosima Wagners den Nachweis, dass Wagner nicht kompromissbereit war (allenfalls noch in geschäftlichen Dingen), so dass seine Konflikte mit Cosima, und genauso seine Opposition zu den von ihm abschätzig so titulierten „Musikjuden“ eine typische Negativdynamik und Unversöhnlichkeit aufwiesen.
Viele Wagner-Autographe projizierte Christa Jost im Rahmen ihrer Überschau über das gesamte auf den Ring des Nibelungen bezogene Schriftenmaterial, eine Fülle von Literarischem, Technischem, Organisatorischem, Kunsttheoretischem usw. Hier bekam man einen imposanten Einblick in das von den Würzburger Richard-Wagner-Schriften zu bearbeitende Quellenmaterial, und es wurde das Versprechen bereits greifbar, das mit dem Editionsprojekt verbunden ist, nämlich einen neuen Blick auf die Gesamtheit der Schriften als ein dicht vernetztes Textsystem, interessante entstehungsgeschichtliche Erkenntnisse und ein besseres Verständnis der Publikationsstrategien Wagners zu gewinnen. Das vermochte ebenso Hans-Joachim Hinrichsens Re-Lektüre von Wagners Schrift Über das Dirigieren. Diese sei keineswegs nur als „Polemik gegen Brahms“ und Begründung eines agogischen Dirigierens gemäß Wagners „Ästhetik der Tempomodifikation“ zu verstehen, sondern zeige letztlich, dass in Wagners Kunstbegriff die Interpretation über der Komposition stehe: Wagners eigentlicher Bezugspunkt sei eben „nicht Beethoven, sondern der richtig interpretierte Beethoven“. Wagner habe 1869 sein Werk „existenziell bedroht sehen“ müssen, da mit dem Ausfall der Dirigenten Bülow und v. Esser plötzlich kein in Wagners Sinne „verständiges“ Wagnerdirigat mehr in Aussicht stand. So sei die Schrift ein (wüst antijüdischer) Versuch sicherzustellen, dass seine Werke „richtig“ dirigiert werden, aber auch eine kunsttheoretische Schrift, die hellsichtig den Anbruch eines Zeitalters der Interpretation im modernen Sinne erkenne, das jenes der Reproduktion ablöse.
Von „intellektueller Unterwerfung“ konnte selbstverständlich gar keine Rede sein. Das Symposium gab vielmehr einen Eindruck davon, wie vielversprechend die philologische Sicherung, Differenzierung und Präzisierung der Richard-Wagner-Schriften für künftige Wagnerlektüren ist.