Imitatio – Aemulatio – Superatio? Vokalpolyphonie des 15./16. Jahrhunderts in Polen, Schlesien und Böhmen
Münster, 25.-26.04.2013
Von Dominik Höink, Münster – 03.06.2013 | Das seit einigen Jahren regelmäßig in Münster stattfindende troja-Kolloquium für Renaissancemusik hat unter der organisatorischen Leitung von Jürgen Heidrich in diesem Jahr den Fokus gen Osten gelenkt und sich dem Raum Polens, Schlesiens und Böhmens zugewandt. Durch diese Verschiebung der Blickrichtung sollte die musikhistorische Entwicklung in Osteuropa näher beleuchtet werden, die – vor dem Hintergrund der starken Konzentration auf die franco-flämische und italienische Musik – bisher vielfach als peripher wahrgenommen wurde.
Nach dem Eröffnungskonzert, in dem Alfred Gross beispielhaft Stücke aus der Tabulatur des Jan von Lublin vortrug, entwickelte Peter Johanek in seinem Abendvortrag eine breite kulturgeschichtliche Perspektive, indem er Höfe und Städte in der Jagiellonenzeit in den Blick nahm. Die im Generalthema der Tagung thematisierten Transferprozesse ließen sich demzufolge in mannigfacher Weise greifen, wobei insbesondere die zahlreichen Handelswege in den Städten, aber auch dynastische Verbindungen als Katalysatoren gedient haben dürften.
In seiner thematischen Einführung machte Jürgen Heidrich deutlich, dass die franco-flämische Dominanz keineswegs bestritten werden solle. Dennoch müsse das Bild kultureller Hegemonie differenziert oder in Teilen überwunden und stattdessen der Fokus auf die Transferprozesse gelenkt werden. Dabei stehe weniger die Migration der Musiker als vielmehr die Überlieferung und Verbreitung von Quellen und die Bedeutung der geistlichen Institutionen im Zentrum. Nicht zuletzt seien Aspekte der konfessionellen Ausdifferenzierung sowie der Nationalsprachlichkeit von Bedeutung.
Mit dem Transfer kultureller Artefakte, der Musikalien, beschäftigte sich Martin Staehelin. Das Urteil des Referenten fiel ernüchternd aus, sei doch eine weitgehende Unmöglichkeit zu konstatieren, konkrete Fakten liefern zu können. Anhand von vier ausgewählten Beispielen, u.a. dem Transfer von Musikalien durch Petrus Wilhelmi nach Rom (die sich dort allerdings nicht erhalten haben), erläuterte Staehelin die Lücken, die eine genaue Kenntnis der Musikalienwanderung erschweren oder gar unmöglich machen. Dennoch ließen sich (über die bisherige Forschung hinausgehend) einige Transferprozesse konkret belegen. Mit Blick auf das Problem, direkte Vorlagen-Abschriften-Verhältnisse zu rekonstruieren, verwies Staehelin auf die besondere Bedeutung der fascicle manuscripts, die jedoch häufig verloren gegangen sind.
Die Überlieferung polyphoner Musik in schlesischen Quellen, insbesondere den „Saganer Stimmbüchern", und die Beurteilung des Repertoires standen im Zentrum des Vortrags von Paweł Gancarczyk. Die Quellenübersicht zeigte eine Verschiebung im Verlauf des 15. Jahrhunderts. So wurde der lokale Rahmen in der zweiten Jahrhunderthälfte durch internationales Repertoire erweitert. Die im Titel des Referats aufgeworfene Frage nach der Beurteilung des Repertoires beantwortete Gancarczyk entsprechend: das Repertoire sei weder als lokal noch als international, sondern vielmehr als zentral-europäisch zu bezeichnen. Ein Perspektivwechsel sei diesbezüglich daher unbedingt notwendig.
Dem Transfer italienischer Musik nach Polen und Schlesien ging Ryszard Wieczorek nach. Mit dem Fokus auf den Rezeptionsbedürfnissen in der Aufnahmekultur stellte der Referent verschiedene Beispiele der Auseinandersetzung mit italienischer Musik in Polen dar, wie beispielsweise der Interpretation und Transformation italienischer Liedformen in einer Krakauer Tabulatur. Durch reisende Musiker, Übersetzungen und entsprechende Interpretationen italienischer Literatur sowie durch dynastische Verbindungen (Bona Sforza) sei ein offenes Rezeptionsklima entstanden, in dem die italienische Musik zur einer Art Orientierungspunkt für polnische Musiker geworden sei.
Die Nachmittagssektion des diesjährigen troja-Kolloquiums wurde mit einer Neuerung begonnen: Im Rahmen eines Nachwuchspanels wurde vier Nachwuchswissenschaftlerinnen die Möglichkeit zur Präsentation ihrer eigenen Forschung gegeben. Den Auftakt machte Anna Plaksin. Ausgehend von ihrem Dissertationsprojekt zu Ordinariumsvertonungen in römischen Quellen fragte sie nach Überschneidungen in der Überlieferung zwischen römischen und osteuropäischen Quellen und präsentierte ihre quantitativen Beobachtungen zum Ordinarienrepertoire. Marie Verstraete wandte sich daraufhin den Ordinariumsvertonungen Mikołaj Radomskis zu. Die stilkritische Untersuchung zeigte den innovativen Umgang Radomskis mit dem musikalischen Material und trug somit dazu bei, das Diktum von der musikalischen Peripherie bröckeln zu lassen. Die Überlieferung polyphoner Hymnen im Codex Strahov stand im Mittelpunkt des Referats von Veronika Mráčková. Das besondere Augenmerk lag dabei auf den allein in diesem Codex überlieferten Hymnen, wie u.a. einer Komposition zu Ehren des Heiligen Wenceslaus, die nicht allein weitere Informationen über die Entstehung des Codex, sondern auch über spezielle böhmische Charakteristika in der Musik liefern. Schließlich geriet eine weitere Quelle, nämlich die für das mehrstimmige Responsorienrepertoire zentrale Zwickauer Schalreuter Handschrift, in den Blick: Adelheid Schellmann untersuchte in ihrem Vortrag die polyphonen Responsorienvertonungen des Breslauer Signators Virgilius Haugk und diskutierte die Möglichkeit einer stilistischen Einordnung, welche über die bisher übliche Verortung Haugks zwischen Josquin und Stolzer hinausgeht. Vermittels des Vergleichs mit den bei Georg Rhaw in Wittenberg gedruckten Responsorien Balthasar Resinarius' warf die Referentin abschließend die Frage auf, ob auch Haugks Vertonungen im Wittenberger Kontext zu verorten seien. Mit diesem vierten Vortrag endete das Nachwuchspanel, das einen äußerst erfolgreichen Auftakt darstellte und hoffentlich in dieser Weise auch in den nächsten Kolloquien fortgeführt wird.
Eine Quelle von ganz besonderer Bedeutung sind die erst seit Kurzem wieder in den Blick der Wissenschaftler geratenen Brünner Chorbücher (CZ-Bmb 14,5 und 15,4). Christiane Wiesenfeldt wandte sich den in den Chorbüchern überlieferten Beata Virgine-Messen zu und zeigte, wie in der Auseinandersetzung mit Kompositionen Brumels und de la Rues durch die Umwandlung des aus den polyphonen Vorlagen entnommenen Materials in eine alternatim-Struktur eine neue Form der Marienmesse entstanden ist, die in der Anlage mit keiner Messe des Typs exakt übereinstimmt. Der Frage, ob es deutsche Chansons gibt, ging anschließend Lenka Hlávková nach. Das in den Codices Speciálník und Strahov überlieferte Repertoire diente dabei als Gegenstand. Mit dem letzten Referat des Kolloquiums wurde zugleich das späte 16. Jahrhundert erreicht. Peter Schmitz nahm die Biographie und das Schaffen des späteren Breslauers Gregor Lange in den Blick. Das besondere Augenmerk lag dabei auf der Lasso-Rezeption in Langes Kompositionen. Der Werdegang Langes steht exemplarisch und vermutlich einzigartig für die Verschränkung der Kulturräume Kurbrandenburg und Schlesien. Überdies zeigt die Publikationsgeschichte der Kompositionen, dass neben der Musikermigration und dem Repertoireaustausch auch die städtische Verschränkung des Druckwesens maßgeblich für kulturelle Transferprozesse war.
Die Beiträge sollen wie üblich innnerhalb der Reihe troja - Jahrbuch für Renaissancemusik publiziert werden.