„Das Sonett und die Musik. Poetiken, Konjunkturen, Transformationen, Reflexionen"
Heidelberg, 26.-28.09.2012
Von Christine Faist, Heidelberg – 17.12.2012 | Während das Sonett und seine Geschichte im literaturwissenschaftlichen Diskurs fest verankert sind, wurde seine breite musikalische Rezeption bisher nur am Rande wahrgenommen. Um diesem Phänomen entgegenzutreten und zugleich den fächerübergreifenden Austausch zu fördern sowie neue Forschungsperspektiven für beide Disziplinen zu eröffnen, veranstaltete das Musikwissenschaftliche Seminar der Universität Heidelberg vom 26. bis 28. September 2012 ein interdisziplinäres Symposium zum Thema „Das Sonett und die Musik. Poetiken, Konjunkturen, Transformationen, Reflexionen", gefördert von der Jorinde Ulmer Gedächtnisstiftung und in Kooperation mit dem Germanistischen Seminar (Heidelberg), dem Institut für Anglistik/Amerikanistik (Hamburg) sowie der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Die Musik- und Literaturwissenschaftler beschäftigten sich, meist in Tandemvorträgen, mit dem Themenkomplex des Sonetts und seiner Vertonung aus entstehungsgeschichtlicher, (rezeptions)ästhetischer, kompositionstechnischer sowie dichtungstheoretischer, aber auch politischer und kulturhistorischer Perspektive.
Eröffnet wurde das Symposium mit einem thematisch ausgerichteten Konzert-Abend und einem einführenden Vortrag der Musikwissenschaftlerin Silke Leopold über das Sonett und seine musikalische Geschichte, die mit der Entstehung der literarischen Gattung im Bereich der improvisierenden Praxis ihren Anfang nahm und in Petrarcas Canzoniere einen ihrer zentralen Referenzpunkte fand. Leopold erläuterte in einem historischen Querschnitt unterschiedliche kompositorische Herangehensweisen und Möglichkeiten der Sonett-Vertonung an Beispielen von Monteverdi über Haydn, Schubert und Liszt bis zu Schönberg. Bei diesem Gang durch die Epochen wurde besonders deutlich, welchen Einfluss die musikästhetischen „Erfordernisse" der Zeit ausübten: Gab es im 16. Jahrhundert eine eindrucksvolle Anzahl von Sonett-Vertonungen v.a. in Form italienischer Madrigale, so erfuhr die literarische Gattung im 17. und 18. Jahrhundert kaum schriftlich fixierte kompositorische Umsetzung. Während das Madrigal ein enormes Spektrum an „Vertonungsmöglichkeiten" für eine poetische Form mit unterschiedlich langen Strophen bot, war die kompositorische Faktur der Da-Capo-Arie in ihrer geschlossenen repetitiven Anlage hingegen wenig für eine Umsetzung geeignet. Wie Inhalt und Form besonders raffiniert in Bezug zueinander gesetzt werden konnten, zeigte Leopold an der Petrarca-Vertonung „Hor che'l ciel e la terra" (1638) von Monteverdi, der die Musik in ihrer dramatischen Unmittelbarkeit zum eigentlichen Thema erhob.
Im anschließenden Konzert wurden Sonett-Vertonungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert von Komponisten wie Marchetto Cara, Jacopo Peri und Loreto Vittori vorgestellt, sowie russische Kompositionen des späten 19. und 20. Jahrhunderts von Aleksandr Grečaninov, Aleksandr Glazunov und Nikolaj Dremljuga, die zum Teil in direktem Bezug zu Vorträgen der Tagung standen. Interpreten waren die Sopranistin Monika Mauch und der Lautenist Julian Behr sowie Studierende der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover.
Im eröffnenden Vortrag der Sektion „Sonette über Musik – Musik in Sonetten" führte der Germanist Rüdiger Görner Gedanken zu Sonett-Sprachklängen aus und zeigte anhand eines Gangs durch die Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts wie der Klang bzw. die „poetische Musik" der Sonette qualifiziert, akzentuiert und dichtungstheoretisch beleuchtet wurde. Den sprachklanglich motivierten Reiz der Sonettform verdeutlichte er an Gedichten von Verlaine, der in einem Preislied auf Petrarca die rhythmischen Strukturen des Sonetts aufbrach und vokalische Assonanzen in den Vordergrund rückte, und Walter Benjamin, der in manchen seiner Sonette ohne Interpunktion nur durch den Sprachklang rhythmisch-musikalische Strukturen erzeugte. Dass in Sonetten immer wieder auf Musik zurückgegriffen wurde, sei es als tatsächlich poetisch verarbeitetes Hörereignis oder als Verweis auf den Topos des Unsagbaren, könne, so Görner, gerade an dieser sprachklanglichen Akzentuierung erklärbar werden.
Die Musik als thematischer Inhalt von Sonetten spielte auch im anschließenden Vortrag von Silke Leopold eine zentrale Rolle. Sie zeigte an Giovanni Valentinis Vertonung von „Duo archi adopra e con due archi offende" (Giambattista Marino) aus seiner Sammlung „Musica di camera" (1621), wie sich in dieser Zeit ein neues Verständnis vom Verhältnis der Sing- zur Instrumentalstimme entwickelte, das die Trennung beider immer stärker aufhob. Indem Valentini dem Instrumentalpart ein besonderes Gewicht einräumte, die Stimmen eng aufeinander bezog und den Text in seiner Konkretheit aber vor allem auch in seiner metaphorischen Gestalt aufgriff und damit eine Art musikalischen Konzeptismus entwarf, schuf er ein kompositorisches Lehrstück über die intrikate Verbindung von Instrument und Stimme – von „suon" und „canto" wie Marino selbst im letzten Vers seines Sonetts „Duo archi" schrieb.
In der zweiten Sektion mit dem Thema „Sonettformen" sprach der Anglist Felix Sprang über die Bedeutung der Volta im italienischen und englischen Sonett mit Blick auf seine dynamische Struktur. Das Formverständnis und sein gleichzeitiges Hinterfragen sowie Ideen eines interaktiven Formbegriffs, der die literarische Form als Prozess beschreibt, bildeten einen wichtigen Ausgangspunkt für die Betrachtung der Volta, die den inhaltlichen Wechsel zwischen Oktett und Sextett vollzieht und dadurch eine Bewegung versinnbildlicht, in der Struktur und Inhalt zusammenfallen. An verschiedenen Beispielen zeigte Sprang, wie italienische und englische Dichter die Volta behandelten, radikalisierten und wie das epigrammatische Denken mit den stilbildenden, auf ein abschließendes Couplet hinführenden Sonetten von Shakespeare entscheidenden Einfluss auf die Form der Gattung nahm. Dabei verdeutlichte er, wie sich im Sonett als dynamischem System dialektisches Denken kristallisierte.
In den beiden folgenden Beiträgen stand das italienische Vanitas-Sonett im Mittelpunkt. Der Romanist Marc Föcking beschrieb die dichterische Auseinandersetzung mit der Vanitas-Thematik im Zusammenhang mit den Ausformungen petrarkistischer Liebeslyrik bis in die Zeit des Barock, während der Musikwissenschaftler Joachim Steinheuer an Beispielen, die Föcking aufgriff, unterschiedliche Strategien der Sonett-Vertonung vorstellte. Föcking sprach zunächst über die Entwicklung des Canzoniere-Modells, beginnend mit einem Renaissance-klassizistischen Petrarkismus (Pietro Bembo), die im Laufe der Zeit unterschiedliche Erosionstypen des Canzoniere hervorbrachte und mit inhaltlichen Erweiterungen sowie der Einführung eines Narrativs in Form der Bukolik einhergingen. Die Vanitasthematik nahm hierbei seit Petrarca einen breiten Raum ein, und Föcking zeigte an mehreren Beispielen, wie eng die Vanitasmotive an das lyrische Ich und das Leiden des Individuums gebunden waren. Er stellte zudem geistliche Sonette vor, in denen die Vergänglichkeitsthematik religiös gedeutet und der Versuch unternommen wurde, den weltlichen Petrarkismus in eine christliche Sphäre zu überführen (Gabriel Fiamma, Rime spirituali, 1572).
Einhergehend mit der Ausbildung des literarischen entwickelte sich im 16. und 17. Jahrhundert auch ein musikalischer Petrarkismus, wie Steinheuer in seinem Vortrag erläuterte. Wie dabei kompositorische Modelle entstanden, inwiefern Komponisten musikalisch aufeinander Bezug nahmen und welche Strategien bei der Vertonung angewandt wurden, zeigte er in vergleichenden Analysen unterschiedlicher Kompositionen zu jeweils einem Vanitas-Sonett. Die formale Anlage der Vertonungen richtete sich meist nach den semantisch-syntaktischen Strukturen und nur bedingt nach der Versform. Bassmodelle und Ostinati waren vor allem im 17. Jahrhundert wichtige Bedeutungsträger, und oft wurde im epigrammatischen Sinn auf den Schlusspunkt hin komponiert. Steinheuer verdeutlichte dies an einer Tansillo-Vertonung von Antonio Rigatti, der in Form einer Steigerung und als musikalische Darstellung des Abgründigen den abfallenden Gestus des Basses chromatisch verdichtete.
Mit dem Sonett als liedhafte Form im Kontext dichtungstheoretischer Schriften sowie in der literarisch-musikalischen Praxis beschäftigten sich in der vierten Sektion der Germanist Thomas Borgstedt und die Musikwissenschaftlerin Sara Springfeld. Als Überblick von der Renaissance bis in die Gegenwart begann Borgstedt seinen Vortrag mit der Entstehung des Sonetts, das sich schon bald von seinem liedhaften Ursprung (der Canzonenform) abkehrte und strophische Wiederholung ausklammerte. Dabei entwickelte sich im 16. Jahrhundert ein Sonett-Verständnis, das vor allem auf das Epigrammatische zielte. So verwundert es kaum, dass in barocken Sonett-Theorien von wenigen Ausnahmen abgesehen (Philipp von Zesen) der Aspekt der Sangbarkeit nicht aufgegriffen wurde. Während in der Zeit der Aufklärung das Sonett einerseits als formstarr empfunden wurde und sich andererseits unter der Prämisse der Natürlichkeit eine neue Orientierung an der Liedhaftigkeit entwickelte (Gottsched), führte A. W. Schlegel das Sonett auf naturphilosophisch-mathematische Prinzipien zurück. Im 20. Jahrhundert hingegen, als vermehrt klangliche Effekte im Vordergrund standen, wurden sprach- und medientheoretische Ansätze entwickelt, die den Aspekt des Performativen betonen.
Mit Blick auf das 17. und 18. Jahrhundert beschäftigte sich Springfeld mit der Frage, warum Sonette im deutschsprachigen Raum kaum vertont wurden. Die relativ späte Verbreitung der Gedichtform, als die musikalische Auseinandersetzung mit Sonetten längst nicht mehr zeitgemäß war, und die Vorstellung von einer regelmäßigen strophischen Liedstruktur können als Gründe herangezogen werden. An einer Auswahl der wenigen deutschen Vertonungen zeigte Springfeld die von der Liedform ausgehende Behandlung der Texte: Hammerschmidt etwa, der ein Sonett von Opitz vertonte, griff in die textliche Gestalt des Gedichtes ein, um fünf gleichmäßige Strophen zu erhalten. Springfeld veranschaulichte zugleich, wie sich durchkomponierte aber auch strophisch angelegte Lieder durchaus an der Sonettform orientieren konnten und verdeutlichte, dass die geringe Zahl der Vertonungen keineswegs am Mangel der kompositorischen Möglichkeiten lag, sondern vielmehr an der Denkweise der Zeit, die von der gängigen Sangbarkeitsästhetik sowie dem Verständnis vom Sonett als Sinn- und eben nicht als Sing-Gedicht geprägt war.
Transformationen und Rezeptionsideen des 19. und 20. Jahrhunderts bildeten den thematischen Rahmen des zweiten Symposiumstages. Die Slavistin Henrieke Stahl und der Musikwissenschaftler Stefan Weiss durchleuchteten in der Kunst- und Unterhaltungsmusik die jeweiligen dichterischen und musikalischen Traditionslinien des Sonetts in Russland und der Sowjetunion. Stahl untersuchte einen Gedichtzyklus des symbolistischen Dichters Vjačeslav Ivanov und seine musikalische Adaption von Aleksandr Grečaninov. Dabei zeigte sie in einem Vergleich des formalen Aufbaus beider Zyklen, wie sich unterschiedliche Denkweisen manifestieren können. Ivanov konzipierte seinen Sonett-Zyklus als einen Gang durch die Stadt Rom, den er in einer zur Transzendenz strebenden mystischen Versenkung auf dem Berg Pincio enden ließ. Grečaninov hingegen modifizierte diese Reihenfolge und schuf mit der Rückkehr in die Stadt eine kreisförmige Anlage: Das Verlassen des Berges hinein in das städtische Leben ist einerseits musikalisch-dramaturgisch motiviert, als Steigerung im Sinne eines opernhaften Endes, aber auch durch die Idee des Immanenten, die im Zeichen einer neuchristlichen Mystik im Gegensatz zu Ivanovs religionsphilosophisch-transzendentem Ansatz steht.
Aus rezeptionsästhetischer Perspektive näherte sich Weiss dem Phänomen der Sonett-Vertonung und untersuchte die musikalische Adaption von Shakespeare-Sonetten in der russischen Unterhaltungsmusik, deren Struktur oft mit der Sonettform, wie sie Vjačeslav Ivanov beschrieben hatte, kongruierte. Dabei verwies Weiss auf die zentrale Bedeutung der 1949 entstandenen russischen Shakespeare-Übersetzung von Samuil Maršak, die den englischen Dichter einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machte und auf die zahlreiche russische Musiker und Komponisten zurückgriffen. Die in der Übersetzung stattfindende Reduktion sprachlicher Komplexität, führte Weiss weiter aus, könne ein Grund sein, warum gerade die vielschichtig konstruierten Shakespeare-Sonette als literarische Grundlage für die eher schlicht angelegten Kompositionen der populären Musikkultur verwendet wurden.
Mit der Spannbreite des kulturgeschichtlichen Dialogs im Bereich der Übersetzung beschäftigte sich der Anglist Norbert Greiner. In seinem Vortrag nahm er eine Auswahl an deutschen Übersetzungen von Shakespeares Sonett Nr. 66 als Ausgangpunkt, um Aspekte der Verallgemeinerung und der Präzision im Blick auf das zeitgenössische Detail aufzuzeigen sowie die Kulturabhängigkeit des Textsinns zu verdeutlichen. Während im 19. Jahrhundert eine Tendenz der Idealisierung zu bemerken ist, die sich vor allem an einem verklärten Zugriff auf Shakespeare und einer dadurch entstehenden Entschärfung ablesen lässt, war das Sonett Nr. 66 im 20. Jahrhundert zunehmend in eine politische Schreibkultur eingebunden. Dies verdeutlichte Greiner besonders anschaulich an einer Übersetzung von Sophie Heiden (um 1935), die eine eher körperhaft kreatürliche Sprache entwickelte und dabei ganz konkret auf die politische Gegenwart Bezug nahm.
Der Rezeptionsgeschichte von Shakespeares Sonett Nr. 66 im Bereich der Musik widmete sich die Musikwissenschaftlerin Dorothea Redepenning. Anhand einer Übersicht stellte sie die zahlreichen im 20. Jahrhundert entstandenen Vertonungen vor und besprach ausführlich eine Komposition von Dmitrij Šostakovič. Sie beruht auf der Shakespeare-Übersetzung von Boris Pasternak, der sich eng an die formale Anlage des Originals hielt, jedoch die „inhaltliche" Übertragung als „historische Fortsetzung" verstanden wissen wollte. Šostakovič stellte den Text explizit in den Vordergrund, indem er eine äußerst schlichte musikalische Struktur wählte, die von einer tiefen Lage, einer verhaltenen Dynamik sowie Terz- bzw. Quint-Oktav-Klängen geprägt ist. Doch trotz radikaler Simplizität setzte er inhaltliche Akzente: Durch Zäsuren und harmonische Wechsel hob er jene Stellen hervor, die ihm (vielleicht sogar politisch) bedeutungsvoll erschienen.
Die Tagung schloss mit einem Blick in die Operngeschichte, den der Musikwissenschaftler Hartmut Schick auf die dramaturgische Funktion des Sonetts in Richard Strauss' letzter Oper „Capriccio" richtete. Schick veranschaulichte, wie Strauss das Sonett im Laufe der Oper, die den traditionellen Streit um den Vorrang von Dichtung und Musik thematisiert, zur Grundlage einer ästhetischen Debatte werden lässt und dabei in didaktischer Weise die Möglichkeiten der Sonett-Vertonung auslotet und sie zugleich in Form der musikalischen Wortdehnung kompositorisch überzeichnet. Das Sonett ist in der Handlung als Text und als Musik der umworbenen Gräfin gewidmet, die sich aber als Personifikation der Oper nicht zwischen den beiden Kunstformen entscheiden darf. Der musikalische Vortrag des Gedichtes, der in ein Terzett und damit in die ästhetische Debatte der Handlung mündet, wird am Ende der Oper von der Gräfin erneut aufgegriffen und als liedhafte Arie zum tatsächlichen Opernereignis stilisiert.
In der abschließenden Diskussionsrunde trugen die Referenten Fragen, Problemstellungen und innovative Ansätze zusammen, die im Laufe der Tagung zur Sprache gebracht wurden. Die rege Diskussionsbereitschaft, die auch alle einzelnen Beiträge begleitete, ermöglichte es, ein breites musik-literaturwissenschaftliches Panorama zu erstellen, das Perspektiven für die Sonett-Forschung vermittelte und einzelne Profile in den Vordergrund rückte: Übersetzung durch Vertonung im Sinne einer Archivierung der Kulturgeschichte, Trivialisierung und Popularisierung, Überlegungen zu Wiederholungsstrukturen, Kongruenzen und Unterschiede von dichterischer und musikalischer Struktur, nationale Vereinnahmungen, Kulturabhängigkeit der Sonett-Rezeption etc. Die Gespräche zielten vor allem auf eine kulturgeschichtliche Verankerung des Phänomens der Sonett-Vertonung und waren von einem intensiven interdisziplinären Austausch geprägt.