„Gender Music Voice"
Männerstimmen sind wie Frauenstimmen – oder doch nicht?
Wien, 21.-23.09.2012
Von Anja Brunner – 17.10.2012 | Bericht zum Internationalen Symposium „Gender Music Voice" am Institut für Musikwissenschaft, Universität Wien. Veranstaltet von Prof. Dr. Regine Allgayer-Kaufmann
Wie ist es um die Beziehung zwischen Gender und Singstimme bestellt? Dieser Frage wurde im Rahmen des Symposiums „Gender Music Voice" an der Universität Wien nachgegangen. Dass die alltägliche Annahme von tiefen Männerstimmen und hohen Frauenstimmen zu einfach ist und der Realität nicht entspricht, wurde dabei rasch deutlich. Der Blick der Teilnehmenden fiel dementsprechend auf physische Möglichkeiten ebenso wie auf gesellschaftliche Normen, vor allem auf kulturelle Tabus. Dabei traten in den Beiträgen zwei komplementäre Zugänge zu Tage: Einerseits die Diskussion von Irritationen von Genderidentitäten durch Stimme und Musik, andererseits aus ethnomusikologischer Perspektive die Analyse von stimmlichen Realitäten in Verbindung mit unterschiedlichen Genderkonzepten. Nicht überraschend war das Fazit, dass es keine universell einheitlich definierte Zuordnung zwischen stimmlichen Charakteristika und Gender gibt. Die Stimme an sich ist nicht per se „weiblich" oder „männlich". Sie wird erst durch soziale und kulturelle Zuschreibungen dazu gemacht.
Soziale und kulturelle Zuschreibungen formen Geschlechterrollen und sind als soziale Konstruktionen keineswegs fix und unveränderbar. Vielmehr sind stimmliche Geschlechtervorstellungen durchaus flexibel und wandelbar und in kontinuierliche Diskurse rund um gesellschaftliche Normen eingebettet, wie sich in mehreren Beiträgen zeigte. So diskutierte Nora Bammer (Wien) die Tradition der chicha-Liedern der Shuar in Ecuador, die vormals Frauen vorbehalten waren, heutzutage aber auch von Männern gesungen werden. Regine Allgayer-Kaufmann berichtete vom nyanga Panflöten-Tanz der Männer in Mosambik, der nunmehr um die spezifische vokale Jodeltechnik von Frauen erweitert wird. Die Relevanz eines Mythos in Melanesien, demzufolge Männer ein Flötenpaar den Frauen gewaltsam entrissen hatten und der bis heute musikalische Tabus rechtfertigt, wurde von Raymond Amman (Sarnen, Schweiz) gezeigt. Und anhand der Diskussion von Veränderungen weiblicher jüdischer Singtraditionen in der Synagoge (Bozena Muszalska, Polen) wurde deutlich, dass selbst in religiösen Zusammenhängen musikalische Gender-Zuordnungen nicht so starr sind wie gemeinhin angenommen. Auch wenn die Art der Zuschreibungen und Rollen zwischen Kulturen variiert und sich durchgehend eine heterosexuelle Matrix beobachten lässt, sind diese Normen immer veränderbar.
Von Relevanz für die theoretische Debatte rund um Musik und Stimme ist neben der Veränderbarkeit von sozialen Normen rund um das Geschlecht auch das In-Frage-Stellen der scheinbar so zentralen Zweiteilung in (biologische) Männer und Frauen – denn diese wird nicht in aller Welt gleich wahrgenommen. Im Südwesten Madagaskars, so Cornelia Gruber (Wien), ist die Mutterrolle geschlechtsunspezifisch konzipiert und inkludiert auch die Onkel als „männliche Mütter", was anhand eines Liedes zur Beschneidungszeremonie gezeigt werden kann, in dem die Mutterrolle besungen wird. Dementsprechend sind auch die Zuschreibungen über stimmliche Charakteristika kulturspezifisch und keineswegs universell. Mirek Kocur (Polen) stellte die Tradition des Puppentheaters in Bali vor, in dem hohe Stimmen nicht Weiblichkeit, sondern einen höheren sozialen Status symbolisieren. Auch Singtechniken können bedeutsam sein, wenn Lukas Kirschner (Wien) anhand der Hua'er-Volkslieder in China vermutete, dass in deren stimmlichen Gendervorstellungen der Einsatz der Kopf- bzw. Bruststimme eine Rolle spielt. Ähnliches wird auch in den Genderrollen im Obertongesang der Khomeii in Sibirien deutlich (Tran Quang Hai, Paris): War Obertongesang für Frauen lange aus vermeintlich gesundheitlichen Gründen verboten, wird weiblicher Obertongesang mittlerweile kommerziell vermarktet. Selbst hinter scheinbar physiologischen Grenzen verbergen sich möglicherweise normative Stereotype.
Diese scheinbar physiologischen Grenzen werden auch in der westlichen Kunstmusik überschritten; auch in diesem Bereich sind die Grenzen der stimmlichen Geschlechtszuordnung alles andere als fix. Anhand des im 20. Jahrhundert entstandenen Stimmfachs des Countertenors zeigte Rebecca Grotjahn (Detmold/Paderborn) nicht nur, dass eine hohe Stimme auch in unseren Breiten nicht automatisch weiblich ist, sondern verdeutlichte vor allem auch hier die soziale Konstruktion dieser Zuschreibung. Obwohl ein Unterschied zwischen Countertenören und Sängerinnen wahrnehmbar ist, liegt dieser, so Grotjahn, in anderen Charakteristika als der Tonhöhe. Der Unterschied in der Stimmhöhe zwischen zwei Frauen oder zwei Männern untereinander kann darüber hinaus größer sein als zwischen einer Frau und einem Mann.
Zur Sprache kam in diesem Zusammenhang auch die ökonomische Komponente von stimmlichen Charakteristika und ästhetischen Vorstellungen. Die Neuschaffung des männlichen hohen Stimmfachs könnte, so vermutete Grotjahn, mit dem zunehmenden Interesse an der Barock-Oper – und damit wachsendem ökonomischem Potenzial – verbunden sein. Auf solche Veränderungen aus ökonomischen Gründen verwies auch Lars-Christian Koch (Berlin) in seinem Vortrag über Aufnahmen von indischen Sängerinnen im frühen 20. Jahrhundert: Aufgrund deren kommerziellen Erfolgs begannen Männer, die spezifische weibliche Singweise zu imitieren, um ebenfalls zu reüssieren.
Von spezieller Bedeutung hinsichtlich der Frage nach ästhetischen Erwartungen an eine weibliche oder männliche Stimme sind Pop-MusikerInnen. Diese irritieren Geschlechternormen häufig und bewusst mit ihrem Einsatz von Stimme, Musik und Auftreten. Dabei wird deren Brüchigkeit ebenso wie das inhärente Widerstandspotenzial besonders deutlich. Christa Brüstle (Graz) zeigte an einem Auftritt der kanadischen Country-Rock-Sängerin k.d. lang exemplarisch deren Mimikry-Strategien: Als Frau präsentiert sich k.d. lang dabei als ein Mann, der wiederum als Drag auftritt. Sie erreicht somit eine doppelte Imitation und Irritation. Solch durchaus ernstes Spielen mit Genderidentitäten zeigt sich auch im gender switching in Liedern von Umm Kulthum und im androgynen Auftreten des türkischen Sängers Zeki Müren (Dorit Klebe, Berlin) oder bei Heavy Metal-Sängerinnen (Robert Braumüller, Wien).
Eingebettet in die Debatten rund um Gender, Musik und Stimme gab die preisgekrönte polnische Vokaltheatergruppe Teatre ZAR (http://teatrzar.art.pl/) unter der Leitung von Jaroslaw Fret direkten Einblick in performative Möglichkeiten der (Sing)Stimme. Die SchauspielerInnen arbeiten mit Liedern unter anderem aus Georgien und Armenien, die sie vor Ort von ExpertInnen lernen, neu arrangieren und als Basis für theatralische Inszenierungen verwenden. (Sing)stimmen dienen darin als Hauptmedium der Vermittlung, unter anderem um die Lieder in neuen Kontexten zugänglich zu machen.
Eine Stimme ist nicht durch physiologische Bedingungen männlich oder weiblich. Vielmehr sind es die kulturell geprägte heterosexuelle Matrix und die darin gefestigten sozialen Normen, die eine Stimme einem Geschlecht zuordnen lassen. Zuschreibungen zu einer weiblichen und männlichen Stimme scheinen dabei weitgehend eine Erfindung der westlichen Welt zu sein. Ein Unterschied zwischen Männern und Frauen ist in der Stimme nur durch das Vorhandensein dieser Kategorien an sich als solcher wahrnehmbar. Gäbe es die Kategorien nicht in dieser Form, wäre auch die stimmliche Unterscheidung eine andere. Daraus folgt, dass die Beziehung zwischen Gender und Stimme nur in Kenntnis der jeweils herrschenden Genderkonzepte erklärbar ist – egal ob im Obertongesang Sibiriens oder betreffend der Stimmfächer der westeuropäischen Kunstmusik. Eine Publikation der Symposiumsbeiträge ist in Vorbereitung.