„Konstruktivität von Musikgeschichtsschreibung – Zur Formation musikbezogenen Wissens“
Göttingen, 03.05.11.2011
Von Daniel Siebert, Berlin – 24.01.2012 | Das strukturierte Promotionsprogramm „Erinnerung – Wahrnehmung – Bedeutung. Musikwissenschaft als Geisteswissenschaft“ des Landes Niedersachsen veranstaltete vom 3. bis 5. November 2011 die internationale Tagung „Konstruktivität von Musikgeschichtsschreibung – Zur Formation musikbezogenen Wissens“ in Göttingen. Im Blickfeld der Tagung, welche von den Promovierenden eigenständig organisiert und durchgeführt wurde, standen die unterschiedlichen epistemologischen Fragestellungen, die sich im Zusammenhang mit Konstruktionen innerhalb von Musikgeschichtsschreibung ergeben.
Im Eröffnungsvortag stellte Alastair Williams (Keele) unterschiedliche theoretische Herangehensweisen an Historizität innerhalb der Disziplin der Musikwissenschaft vor. Anhand musikalischer Beispiele von Helmut Lachenmann und Wolfgang Rihm erläuterte Williams, wie auf theoretische Aspekte der Musikgeschichtsschreibung eingegangen werden kann. Im Anschluss daran verlas Frank Hentschel den Vortag von Alexander Rehding (Cambridge, Ms.) über die ägyptische Spieldose. Rehding veranschaulichte darin die Überlieferung der alt-ägyptischen Musikkultur. Nach Rehding blieben seit dem 17. Jahrhundert die Diskurse über die alt-ägyptische Musikkultur stetig musikhistorische Spekulationen, die sich in den Jahrhunderten nur in ihrer ideologischen Grundausrichtung veränderten. James Garratt (Manchester, verlesen von Alastair Williams) beschloss die Vortragsreihe des ersten Tages. In Garratts Vortrag ging es um die bei Hayden White und Michael Oakeshott angeregte theoretische Unterscheidung einer praktischen und historischen Vergangenheit innerhalb der Musikgeschichtsschreibung. Anhand des Beispiels von Chrysanders Rezension über Georg Gottfried Gervinus’ opus magnum Händel und Shakespeare stellte Garratt fest, dass dieser Moment in der Entwicklung der Musikgeschichtsschreibung den Ansatz einer immer schon in seiner historischen Vielfalt konkurrierenden Disziplin trägt.
Der zweite Tag begann mit einem Vortag von Tobias Janz (Hamburg) mit dem Titel „Zur Konstruktion historischen Wissens in der musikalischen Analyse“. Janz betonte anhand einiger Beispiele, welche Erkenntnisse der musikalischen Analyse in einem musikhistorischen Interesse liegen. Anhand verschiedener musikalischer Analysen von Beethovens Eroica zeigte Janz, wie diese den jeweiligen Autoren zur Beweislage ihrer ideologischen Standpunkte dienen. Der nächste Vortrag von Signe Rotter-Broman (Kiel) hatte die Verortung und Einordnung von master narratives in der musikalischen Analyse zum Thema. Rotter-Broman bewertete hierbei die Einbindung von Meistererzählungen als Chance zur Entschlüsselung gängiger Vorstellungen, die man dadurch überdenken und unter Angabe des eigenen Erkenntnisstzieles neu schreiben könne. Die nächste Sektion eröffnete Golan Gur (Berlin) mit seinem Vortrag zur Dekonstruktion der musikalischen Moderne. Gur betonte anhand der Adorno - Schönberg Apologien zur Zwölftonmusik, wie verschiedene narrative und ästhetische Ideologien wirken können. So steht für Gur die Avantgarde-Szene der zweiten Wiener Schule nicht unmittelbar für einen musikalischen Fortschritt, sondern nur für die „Ideologie“ eines Fortschritts. In einem ähnlichen theoretischen Kontext beleuchtete Mario Dunkel (Dortmund) ideologische Implikationen in der frühen amerikanischen Jazzhistoriographie zwischen 1936 und 1956. Nach Dunkel wird in der Kontroverse der beiden Jazzhistoriographen Nick La Rocca, der in der Entstehung des Jazz vor allem einen „weißen“ musikalischen Einfluss sieht, und Marshall Stearns, der den afrikanischen Ursprung der Jazzmusik herausstellt, deutlich, wie unterschiedlich ideologische Denkstrukturen die Musikgeschichtsschreibung beeinflussen können. Der Nachmittag begann mit Hartmut Möllers (Rostock) Beitrag über die kritischen Reflexionen einer in der Musikwissenschaft propagierten Fortschrittsgeschichte. Möller plädierte dafür, ein Sowohl-als-auch-Denken innerhalb der Disziplin zu entwickeln. Dem entgegengestellt zeigte er anhand einiger Beispiele von Reckow bis Eggebrecht den Drang einer kontinuierlichen Geschichtsschreibung vom musikalischen Mittelalter bis zur Gegenwart auf. Andreas Domann (Köln) verglich in seinem anschließenden Vortrag die historiographischen Ansätze der New Musicology mit der marxistischen Musikwissenschaft in der DDR. Die Idee der New Musicology den Gehalt eines Werkes im soziokulturellen Kontext zu verorten, ähnelt nach Domann einer marxistischen Historiographie. Juliane Riepes (Halle) Beitrag zur Tagung war ein Blick in die Geschichte der 300 Jahre bestehenden Varianten und Konstanten des gesellschaftlichen „Bildes“ über Georg Friedrich Händel. Die Bildervarianten nahmen in ihrer Vielfalt mitunter groteske Züge an, so dass Händel teilweise als Homosexueller, Deutscher, Europäer oder Feminist dargestellt wurde. Riepe stellte diese Projektionen als Bilder der Vergangenheit dar, welche grundsätzlich an die Gegenwart der Autoren gebunden waren. Den Tagungsabschluss am Freitag bildete der Vortrag von Simon Obert (Basel). Obert konzentrierte seine Ausführungen auf die Künstleranekdote in der Pophistoriographie. Er wies hierbei zunächst auf die Spannungsfelder der Anekdote als wissenschaftliche Quelle hin. Anhand einiger Beispiele von den Rolling Stones bis hin zu Wolfgang Amadeus Mozart erörterte er, dass Anekdoten nicht singulär zu verstehen sind, weil die gleichen inhaltlichen Motive vielfach anwendbar erscheinen.
Der letzte Tag begann mit dem Vortrag von Frank Hentschel (Köln) über modularisierte Musikgeschichte. Anhand der Textsorte der Modulbeschreibungen in Lehrplänen versuchte Hentschel zu hinterfragen, inwieweit sich darin alte Ideologien der Musikgeschichtsschreibung niederschlagen. Kritisch hinterfragte Hentschel, ob eine Beschreibung der „allgemeinen Musikgeschichte“ in ihrer linearen Struktur ideologiefrei überhaupt denkbar sei. Anhand der schwierigen Definition und Eingrenzung des Begriffes “Musikgeschichte“ stellte Hentschel derartige Lehrpläne infrage. Der Vortrag von Christian Thorau (Potsdam) und Anselma Breer (Frankfurt a. M.) befasste sich mit der Frage, wie sich Historizität in Konzertführern und Programmen niederschlägt. Thorau beschrieb anhand der historisch gewachsenen inhaltlichen Ebenen verschiedene Evolutionsstufen der Konzertführer. Breer exemplifizierte diese Einführung anhand der Geschichte der Programmheftentwicklung des Gewandhausorchesters zu Leipzig. Den letzten Vortrag hielt Philine Lautenschläger (Berlin) über Kontinuitäten und Veränderungen in der Musikhistoriographie von 1920 bis 1950. Lautenschlägers Beispiele hierfür waren verschiedene Darstellungen des Terminus „Barockmusik“. Durch die Einbeziehung einiger Beispiele der Musikgeschichtsschreibung aus dem Exil verwies sie auf die Wechselwirkungen einer durch Migration entstandenen historiographischen Vielfalt.
Die „Ergebnisse“ der Tagung wurden abschließend in einer lebhaften Podiumsdiskussion erörtert. Festzuhalten gilt, dass die kritischen Reflexionen auf Musikgeschichtsschreibung in der gegenwärtigen Musikwissenschaft eine große Rolle spielen und unterschiedliche Ansätze hierbei kontrovers diskutiert werden. Die von den OrganisatorInnen professionell geleitete Tagung in angenehmer Atmosphäre zeigte die Vielfalt auf, wie Musikhistoriographie im beginnenden 21. Jahrhundert verstanden werden kann.