„Kunst und Kommerz im Progressive Rock“
Köln, 23.-24.11.2011
Von Martin Lücke und Klaus Näumann, Köln – 24.01.2012 | Am 23. und 24. November 2011 fand an der Universität zu Köln in Kooperation mit der Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation (MHMK) die internationale Arbeitstagung „Kunst und Kommerz im Progressive Rock“ statt. In seiner Begrüßungsrede thematisierte Direktor Reinhard Schneider zunächst die Entwicklung des an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln angesiedelten Instituts, das im Jahr 2010 von Institut für Musikalische Volkskunde in Institut für Europäische Musikethnologie umbenannt sowie im Jahr 2011 mit einer Juniorprofessur ausgestattet wurde, die neue Themenschwerpunkte, wie beispielsweise Progressive Rock, erlaube und begünstige.
Klaus Näumann (Köln) – Mitinitiator der Tagung – ging in seiner Einführung auf die Vorgeschichte der Tagung, die Kontaktaufnahme zu den Referenten, die Bedeutung des Themas, die (noch nicht zu verzeichnende) Akzeptanz im wissenschaftlichen Kontext sowie auf den Forschungsstand zu Progressive Rock ein. Zusätzlich umriss er Wesen und Entstehung des Genres seit Mitte der 1960er Jahre bis zur Gegenwart, ging auf die Problematik des Terminus bzw. der damit in Verbindung stehenden Termini ein und wies auf das hohe Potential für zukünftige Forschungen hin.
Im ersten Referat des ersten Konferenztages stellte Michael Custodis (Münster) „Symphonic Prog. Orchesterprojekte von The Nice bis Steve Vai“ dar. Neben einem geschichtlichen Abriss wurde insbesondere der Künstler Steve Vai näher betrachtet, zu dem Custodis intensiven Kontakt pflegt und ihn bereits interviewte. Im Mittelpunkt von Custodis‘ spannendem Beitrag standen Partituren, anhand derer der Referent auf musikalische Strukturen und Besonderheiten einging. Eine gänzlich andere Vorgehensweise wählte Volkmar Kramarz (Bonn) in seinem Beitrag „Strawberry fields forever – wie aus simplen Beatsongs anspruchsvolle Kunstwerke wurden“. Kramarz ging insbesondere auf die geschichtlichen, sozialen und politischen Konstellationen sowie die musikgeschichtlichen Bedingungen ein, die zu dieser musikalischen Bewegung Ende der 1960er Jahre geführt hatten. In Eckard Münchs (Köln) Vortrag „Krautrock, (k)eine Musikrichtung“ standen ebenfalls die politischen und sozialen Entwicklungen sowie insbesondere das Wesen und (anhand von ausgewählten Musikbeispielen) die musikalischen Merkmale des Krautrock im Mittelpunkt bzw. die Frage, ob es überhaupt Parameter gebe, die uns erlauben von einer einheitlichen Musikrichtung zu sprechen. Anhand von ausgewählten Textpassagen und Zitaten, die kritisch reflektiert wurden, stellte Sidney König (Köln) abschließend die „Auswirkungen von Begriffsdefinitionen und historischen Narrativen auf die Geschichtsschreibung des Progressive Rock“ dar.
Der zweite Tag der Arbeitstagung begann mit einer ausführlichen Geschichte zur Relevanz des Mellotrons im Progressive Rock. Florian Zwißler (Köln), selbst Besitzer eines dieser inzwischen raren Instrumente, erläutere dabei kenntnisreich anhand zahlreicher Fotos und Videos die komplexe Funktionsweise der in den 1960er Jahren entwickelten Instrumente sowie ihren Gebrauch innerhalb des Genres. Anschließend erläuterte Allan Moore, Professor für Popular Music an der University of Surrey, in seinem „Shreds of Memory in Post-milenial Prog“ betitelten Vortrag die musikalische Nähe zwischen dem Progressive Rock der 1970er Jahre und dem des neuen Jahrtausends. Angereichert durch zahlreiche Hörbeispiele zeigte Moore, wie sich aktuelle Künstler wie Neal Morse auf die bekannten Gruppen und Werke des Progressive Rock immer wieder direkt beziehen. Eine ganz andere Idee verfolgte Franco Fabri (Mailand) in seinem Vortrag, der sich mit dem Aspekt des „Rock in Opposition“ befasste (RiO). Dabei versuchte Fabri RiO als eigenständiges Genre zu definieren, in dem auch einige Bands aus dem Progressive Rock ihre Heimat gefunden hätten. Dass Bach für viele Künstler der Rock- und Popmusik einfach „der Größte“ sei, zeigte Bernward Halbscheffel (Leipzig). Angefangen bei den Beatles bis hin zu modernen Gruppen wie Duft Punk aus Frankreich zeigte Halbscheffel, in welch hohem Maße Elemente aus der Musik des „Thomaskantors“ auch in der populären Musik aufzufinden seien. Jedoch betonte er, dass diese nur durch genaue Kenntnis des klassischen Repertoires auch vom Hörer „entdeckt“ werden könnten. Ohne eine gewisse musikalische Vorbildung könne dies nicht gelingen. Den Aspekt der musikalischen Sozialisation, gerade im Progressive Rock von großer Bedeutung, beleuchteten die letzten beiden Vorträge der Tagung. Klaus Näumann berichtete in „Die musikalische Sozialisation mit Progressive Rock in der schwäbischen ‚Tundra und Taiga’“ auf Basis von Interviews, die er mit „alten Weggefährten“ aus dem Stuttgarter Umland durchgeführt hatte. Die anschließende Diskussion mit den Zuhörern machte deutlich, dass die von ihm dargestellten Ergebnisse Parallelen zum Alltag vieler Progressive Rock Hörer aufweisen. Von Europa ging es abschließend nach Südamerika. Der in Peru geborene Julio Mendívil (Köln) zeigte nicht nur spannend erzählt, dass es auch in Peru Progressive Rock Bands in den 1970er Jahren gab, sondern auch, wie schwierig es war, sich mit dieser Musik zu sozialisieren. Selten gehörte Klangbeispiele rundeten diese sehr persönliche Geschichte gelungen ab.
Ingesamt zeigte die Tagung, welches Potential das Thema Progressive Rock aus wissenschaftlicher Sicht besitzt. Nicht nur die Musikwissenschaft, auch die Musikwirtschaftsforschung und andere Disziplinen finden im Progressive Rock spannende und noch weitgehend unerforschte Themen, denen es sich zuzuwenden gilt. Ein Anfang ist gemacht, weitere Anstrengungen werden folgen, dieses Genre auch wissenschaftlich in Deutschland zu etablieren.