Avantgarden im Spannungsfeld von Gender im deutschsprachigen Raum von 1945 bis heute: Soziabilitäten, Ästhetiken, Erinnerungsprozesse
Internationale Tagung
Lyon, 12.-14.10.2023
Deadline: 31.03.2023
Université Lyon 3 Jean Moulin
Organisation: Susanne Böhmisch (Aix-Marseille Université), Cécile Chamayou-Kuhn (Université de Lorraine), Sibylle Goepper (Université Jean Moulin Lyon 3), Agathe Mareuge (Sorbonne Université / CNRS), Élise Petit (Université Grenoble Alpes)
Auf Grundlage der Forschungsergebnisse zu Genderfragen im Zusammenhang der „historischen“ Avantgarden[1] setzt sich unsere Tagung zum Ziel, die Auswirkungen von Geschlechterverhältnissen und -mechanismen auf künstlerische Avantgarden von 1945 bis heute zu untersuchen. Unser Interesse gilt Praxis, Werk und Geschichtsschreibung von Kunstformen, die sich als experimentell verstehen oder in den Randzonen ansiedeln. „Spannungsfeld von Gender“ bezieht sich hier sowohl auf den Platz der Frauen in diesen Kreisen, die dort herrschenden Geschlechterbeziehungen, die symbolische Kategorisierung und Hierarchisierung zwischen „weiblich“ und „männlich“, als auch auf den (gesellschaftlichen und ästhetischen) Umgang mit alternativen Maskulinitätsmodellen, non-binären Identitäten und Sexualitäten oder die intersektionale Analyse der Minorisierungsprozesse bestimmter Geschlechtsidentitäten.Alle Disziplinen sind aufgerufen: Musikwissenschaft (gelehrte und populäre Musik), Kunstgeschichte, Literaturgeschichte, Ästhetik, bildende Kunst, Architektur, visuelle Kunst (Fotografie, Video, Film), darstellende Kunst (Theater, Tanz, Performance, Zirkus), Literatur usw.
Die vorgeschlagene Periodisierung basiert auf zwei Arbeitshypothesen: Im Westen scheint die „zweite Welle des Feminismus[2]“ ab den 1960er Jahren einen günstigen Rahmen zu schaffen, um Frauen und Männer in Künstlerkollektiven verstärkt zu Kooperation und Austausch zu veranlassen. Im Osten waren zwar Avantgarde und experimentelle Kunst durch die Doktrin des sozialistischen Realismus verfemt, doch ging die gesetzlich garantierte formale Gleichheit zwischen Frauen und Männern mit realen sozialen Fortschritten der Lage auch der Künstlerinnen einher. Inwiefern hat dies zum Wandel der Geschlechterverhältnisse beigetragen, als in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts avantgardistische Gruppen in der DDR aufblühten[3]?
Bekannt ist die These, dass die Aufrechterhaltung patriarchalischer Muster innerhalb der historischen Avantgarden für Künstlerinnen zu einer Erfahrung des „Marginalen im Marginalen“ geführt hat, und zwar in Bezug auf Funktionsweise, Affirmation von Geschlechtsidentität, Rezeption in der Öffentlichkeit und Kunstgeschichtsschreibung. Die These ist für den oben genannten Zeitraum und bis in die heutige Gegenwart zu überprüfen und zu differenzieren: Unterlagen die Frauen in den avantgardistischen Szenen auch nach 1945 einer doppelten Marginalisierung? Was ist generell zu den Geschlechterverhältnissen innerhalb dieser Szenen festzustellen? Gilt die doppelte Marginalisierung auch für andere geschlechtsspezifische Identitäten (homosexuelle, transsexuelle Künstler*innen)? Auf welche Weise, mit welchen Mitteln äußern sie sich? Verstärken die Kriterien von „Rasse“ oder Klasse diese Phänomene? Hat sich später im Laufe der Zeit der Blick auf diese Künstler*innen verändert?
Wir interessieren uns aber nicht vornehmlich für diese Künstler*innen und Künstlergruppen als Opfer und Ausgeschlossene, sondern mehr für ihre Strategien, dem Ausschluss zu entgehen und einen Platz zu finden im avantgardistischen Lager selbst wie auf dem Feld des Mainstreams. Könnte man von einer neuen Variante der Aporie der Avantgarde sprechen, dieser „totgeborenen“ Bewegung (Noudelmann 2000[4]), die ihre eigene Zerstörung immer schon in sich trägt? Welche spezifischen Erscheinungen sind dabei feststellbar, sowohl auf der Ebene der Organisationsform und der Ästhetik, als auch bezüglich der Filiation und des Verhältnisses zur Nachwelt? Gibt es auf der diskursiven Ebene auf Seiten der Künstler*innen eine geschlechtsspezifische Art und Weise, sich zu konstruieren und zu definieren? Und wie haben sich im Bereich der Rezeption die geschlechtsspezifischen Diskurse über die künstlerischen Praktiken der Avantgarden im Laufe der Zeit verändert? Muss man sich zwangsläufig zu einer „Avantgarde“, noch dazu einer feministischen oder geschlechtsbezogenen, bekennen, um dazu gerechnet zu werden?
Die untersuchten Korpora sollen aus den deutschsprachigen Ländern oder dem deutsch-französischen Feld stammen. Tagungssprachen sind Französisch, Deutsch und Englisch.
Mögliche Fragestellungen und Themen:
Themenschwerpunkt 1 - Gleichheit in den Randzonen? Utopie und Realität
Die Funktionsweise der Avantgarden nach 1945 soll aus soziologischer und politischer Sicht untersucht werden: Stellung der Frau, Geschlechterverhältnisse, Diskurse der Akteur*innen, Ziele der Gleichstellung von Frauen und Männern innerhalb des künstlerischen Feldes, Strukturierung nationaler und transnationaler Netzwerke, Präsenz in den Institutionen. Welche Erfolge, welche Misserfolge sind zu verzeichnen? Welche Interaktionen zwischen den politischen, aktivistischen Kämpfen (sexuelle Revolution, Kampf für Gleichberechtigung, für das Recht, über den eigenen Körper zu bestimmen usw.) und intellektuellen Debatten ab 1968 einerseits und der künstlerischen Praxis sowie den theoretischen Überlegungen zur Ästhetik andererseits sind feststellbar? Welche Entwicklungen lassen sich für Frauen und Männer im Laufe der Jahrzehnte beobachten?
Themenschwerpunkt 2 - Ästhetische Formen von Gender in den Avantgarden
Die Auswirkungen einer geschlechtsspezifischen Logik auf die Entwicklung der Ästhetiken und auf die spezifische Wiederaneignung avantgardistischer Formen durch Künstler*innen sollen hinterfragt werden: Welchen Beitrag leisten die Betonung geschlechtsspezifischer Identitäten, die neuen Darstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, innovative Körperfigurationen, die Besonderheit der verwendeten Materialien und Medien, der Einsatz spezifischer Techniken und Technologien? Spielen inter- oder transmediale und multidisziplinäre Praktiken in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle? Welche Kunstgattungen bringen Gender am besten „zum Sprechen“? Sind bestimmte Künste resistenter gegen diese Fragestellungen als andere oder greifen sie diese zu unterschiedlichen Zeiten auf?
Themenschwerpunkt 3 - Filiationen, Kanon und Nachwelt
Die Forschung hat oft betont, dass manche zu Lebzeiten anerkannte Künstlerinnen später in Vergessenheit geraten sind. Die geschlechtsspezifische Dimension der nach 1945 von Künstlern, Institutionen und Kritikern produzierten Geschichtsschreibung der Avantgarden soll hier im Fokus stehen. Haben Frauen einen anderen Diskurs als Männer zu diesem Thema produziert? In welche Traditionen reihen sie sich ein, welche Filiationen zeichnen sich ab? Wie haben Frauen an ihrem eigenen Nachruf gearbeitet oder nicht gearbeitet? Wer schreibt die Geschichte der Avantgarden und legt die Erinnerung daran – in Form eines Kanons – fest, nach welcher Logik der Einschließung, des Ausschlusses, der Verfälschung, der Idealisierung, der Musealisierung usw.? Die Fragestellung kann auf andere geschlechtsspezifische Identitäten erweitert werden.
Themenschwerpunkt 4 - Gender für eine zeitgenössische Avantgarde?
Ist in einer Zeit, in der Innovation zum Mainstream geworden ist, der Begriff der Avantgarde obsolet geworden? Wie lassen sich Ränder und Marginalien in einer globalisierten Welt definieren, die manchmal als azentrisch wahrgenommen wird, da in unzählige Netzwerke eingebunden, und die durch vielfältige Mobilitäten ausgezeichnet ist? Könnte Gender ein Kennzeichen für eine zeitgenössische Avantgarde sein, die auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen reagiert oder explorative Formen annimmt, um solche Themen zu behandeln? Wie tragen die jeweils angewandten Organisations- und Diffusionsmodi dazu bei (selbstverwaltete Strukturen, digitale Netzwerke, Festivals usw.)? Treffen an diesen Stellen Genderproblematiken und avantgardistische Praktiken aufeinander?
Ihre Vorschläge für einen Beitrag sowie kurze biobibliografische Angaben richten Sie bitte bis zum 31. März 2023 an folgende Adresse: gender.avantgarde@gmail.com. Die Liste der angenommenen Beiträge wird Ende April 2023 bekannt gegeben. Eine Publikation ist vorgesehen.
Susanne Böhmisch (Échanges, AMU)
Cécile Chamayou-Kuhn (CEGIL-Metz, Université de Lorraine)
Sibylle Goepper (IETT, Lyon 3)
Agathe Mareuge (REIGENN et Centre André-Chastel, Sorbonne Université / CNRS)
Élise Petit (LUHCIE, UGA)
[1] Guillaume Bridet, Anne Tomiche (Hg.), Itinéraires, 2012-1, « Genres et avant-gardes » [Online]: https://journals.openedition.org/itineraires/1223 (Stand: 15/10/2022).
[2] Bibia Pavard, « Faire naître et mourir les vagues : comment s’écrit l’histoire des féminismes », Itinéraires, 2017-2, Online: http://journals.openedition.org/itineraires/3787 (Stand: 15/10/2022).
[3] Angelika Richter, Das Gesetz der Szene. Genderkritik, Performance Art und zweite Öffentlichkeit in der späten DDR, Berlin, transcript, 2019.
[4] François Noudelmann, Avant-garde et modernité, Paris, Hachette, 2000.