Lit­er­at­ur und Kunst ‚bei Gele­gen­heit‘. Kontinu­itäten und Trans­form­a­tion­en im 18. und 19. Jahrhun­dert

Tübingen, 12.-14.04.2023

Deadline: 15.11.2022

Eberhard Karls Universität Tübingen, 12. – 14. April 2023
Tagung im Rahmen des SFB 1391 Andere Ästhetik
Projekt A5

Organisation und Konzeption:

Prof. Dr. Dietmar Till (Eberhard Karls Universität Tübingen)
Katharina Geißler (Eberhard Karls Universität Tübingen)
Dr. Maximilian Bach (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)

Gelegenheitsdichtung und Gelegenheitsreden prägen das Profil der deutschsprachigen Textproduktion seit dem frühen 17. Jahrhundert maßgeblich. Zeitgleich rückt die Frage nach künstlerisch legitimen Praktiken des Schreibens, Sprechens und Publizierens ‚bei Gelegenheit‘ ins Zentrum des ästhetischen Diskurses. Dieses Verhältnis verschiebt sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts: Mit der zunehmenden Autonomisierung des literarischen Feldes korrespondiert die wachsende Attraktivität und programmatische Entfaltung von genie- und autonomieästhetischen Positionen. Aus bildungsgeschichtlicher Perspektive wird das rhetorische, auf Textproduktion angelegte Paradigma des altsprachlichen Unterrichts durch den modernen Deutschunterricht zurückgedrängt. In der Folge lockert sich die institutionelle Verankerung von Gelegenheitsliteratur, sie fristet ein Nischendasein im ästhetischen Diskurs und verliert sukzessive an Prestige.

Dennoch bedeutet die Krise des rhetorischen Paradigmas keineswegs einen Abbruch der gelegenheitsgebundenen Literatur. Bereits das monumentale Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in 31 Bänden (2001–2013) führt eindrücklich vor Augen, dass die kasuallyrische Produktion in einigen Teilen des deutschen Sprachraums gegen Ende des 18. Jahrhunderts vielmehr ansteigt. Damit ergibt sich eine Theorie-Praxis-Schere, die ein enormes Irritationspotenzial für gängige literaturgeschichtliche Zäsurierungen birgt. Anders formuliert: Die Frage nach den Kontinuitäten und Wandlungen von Gelegenheitsliteratur im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts verspricht eine Fülle neuer literaturhistorischer Einsichten und Differenzierungen.  Vier zentrale Perspektiven sollen die Tagung leiten:

1. Kommunikative und publizistische Settings

Als pragmatisches ‚Genre‘ stehen Gelegenheitstexte in herausgehobener Weise für die wechselseitige Konstitution von Literatur und sozialer Wirklichkeit. Dabei schließt das Gelegenheitsgedicht in seiner ‚alteuropäischen‘ Erscheinungsform zwei kommunikative Facetten kurz: Zum einen Textstrategien und poeseologische Eigenlogiken, die die spezifisch literarische Formung des Anlasses im Gedicht selbst betreffen, zum anderen die anlassgebundene Deklamation und Aufführung beziehungsweise Überreichung und Verteilung oder den umgehenden Abdruck in Zeitungen und Zeitschriften sowie den buchhändlerischen Vertrieb der Texte.  Inwiefern – so ist zu fragen – wandeln sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die performativen Kontexte, die Distribution und Zirkulation gelegenheitsgebundener Texte? Welche Rolle kommt beispielsweise dem Boom von Periodika seit dem frühen 19. Jahrhundert zu? Und welche Effekte ergeben sich hieraus für die konkrete Ausgestaltung des kommunikativen Dreiecks von Adressant, Adressat sowie dem zuhörenden, zusehenden oder lesenden Publikum?

2. Pluralisierung des anlassgebundenen Schreibens

Neben jene Kasus, die seit der Antike Gelegenheitsdichtung motivieren, tritt bereits im Verlauf des 18. Jahrhunderts ein vielfältiges Spektrum von Anlässen, die in Texten selbst aufgegriffen sowie in Peritexten vermerkt und kommentiert werden. Zur panegyrischen Kasualdichtung und patriotischen Kriegslyrik kommt – um nur ein Bespiel zu nennen – seit den 1790er Jahren das neuartige Genre des „Zeitgedichts“ hinzu. Welche weiteren anlassbezogenen Gedichtformen etablieren sich seit Ende des 18. Jahrhunderten parallel zu tradierten Formen von Gelegenheitsdichtung? Wie verändern sie die Konstellation von Gedichttypen, die auf eine Gelegenheit hin geschrieben wurden beziehungsweise ihre Entstehung aus einer spezifischen Situation benennen? Und inwiefern korrespondiert der kasualliterarische Ausdifferenzierungsprozess mit Entwicklungen, die das ‚Gesamtsystem‘ Literatur betreffen?

3. Intermediale und interdisziplinäre Perspektiven

Kasualtexte sind seit der Frühen Neuzeit in ein ganzes Ensemble gelegenheitsgebundener Kunstformen eingebunden. Sie dienen als Libretti für Festkantaten oder aufwendige musiktheatrale Aufführungen, entstehen parallel oder in enger Abstimmung mit den Bildprogrammen ephemerer Dekorationen, Illuminationen oder Medaillen. Der interdisziplinäre Blick auf die Entwicklungen der Gelegenheitsmusik und der gelegenheitsgebundenen bildenden Kunst erweist sich folglich auch für die Frage des Wandels von Gelegenheitsliteratur als maßgeblich. Welche Erkenntnisse für den Wandel von gelegenheitsgebundener Text- und Kunstproduktion bietet eine medienkombinatorische Perspektive? Welche sozialen und ästhetischen Funktionen kommen den einzelnen Festbestandteilen wie ephemerer Architektur oder Festkantaten in multimodalen Festabläufen zu? Und welche Veränderungen im medialen Gefüge lassen sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beobachten?

4. Gelegenheitsliteratur und Digital Humanities

Auf den literaturhistorischen Stellenwert von Gelegenheitsliteratur deutet bereits die ungeheure Fülle an überlieferten Texten. Diese erweist sich zugleich als pragmatische Hürde, so dass in der bisherigen Forschung (meist lokal orientierte) Fallstudien dominieren. Welche Potenziale bieten vor diesem Hintergrund Volltextkorpora und ihre quantitative Analyse für die Erforschung von Kontinuitäten und Transformationen der gelegenheitsgebundenen Literatur- und Kunstpraxis? Welche Schwierigkeiten ergeben sich zugleich bei der Zusammenstellung ‚repräsentativer‘ Korpora?

Die Tagungssprachen sind Deutsch und Englisch. Abstracts im Umfang von max. 3000 Zeichen für einen 25-minütigen Vortrag sowie knappe biobibliographische Angaben können bis 15. November 2022 eingereicht werden (Kontakt: katharinageissler93@gmail.com). Antwort erhalten die Einsender*innen bis Anfang Dezember 2022.

Reise-, Übernachtungs- und Aufenthaltskosten der Vortragenden werden im Rahmen der üblichen Bestimmungen übernommen. Eine Veröffentlichung der Beiträge in einem Sammelband ist vorgesehen.

Literatur:

Jan Andres, Meike Rühl, Axel E. Walter: „Gelegenheitspublikation“, in: Natalie Binczek, Till Dembeck, Jörgen Schäfer (Hrsg.): Handbuch Medien der Literatur, Berlin u. Boston 2013, S. 441–458.

Maximilian Bach: Karl Wilhelm Ramler. Gelegenheitspanegyrik als Literatur- und Kunstpolitik, Heidelberg 2022 (Myosotis 9).

Roland Berbig: „Die Gelegenheiten im Gelegenheitsgedicht des 19. Jahrhunderts“, in: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 4 (2001), S. 7–23.

Heinrich Bosse: „Dichter kann man nicht bilden. Zur Veränderung der Schulrhetorik nach 1770“, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 10/1 (1978), S. 80–125.

Klaus Garber: „Vorwort zum Gesamtwerk“, in: Stefan Anders, Sabine Beckmann, Martin Klöker (Hrsg.): Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven, Bd. 1, Hildesheim, Zürich u. New York 2001, S. 7–12.

Martin Klöker: „Gelegenheitsdichtung im alten Livland um 1800. Plädoyer für eine neue Literaturgeschichte der baltischen Länder“, in: Heinrich Bosse, Otto-Heinrich Elias, Thomas Taterka (Hrsg.): Baltische Literaturen in der Goethezeit, Würzburg 2011, S. 65–81.

Annika Rockenberger: „Gelegenheitsdichtung in der Frühen Neuzeit. Resultate – Probleme – Perspektiven“, in: Zeitschrift für Germanistik 23/3 (2013), S. 641–650.

Wulf Segebrecht: „Goethes Erneuerung des Gelegenheitsgedichts“, in: Goethe-Jahrbuch 108 (1991), S. 129–136.

Stefanie Stockhorst: „Feldforschung vor der Erfindung der Autonomieästhetik? Zur relativen Autonomie barocker Gelegenheitsdichtung“, in: Markus Joch, Norbert Christian Wolf (Hrsg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 108), S. 55–71.

Claudia Stockinger: „‚[...] und einfach Freude machen wollen‘. Merkmale, Verfahren, Formen und Funktionen okkasionellen Dichtens im 19. Jahrhundert“, in: Johannes Franzen, Christian Meierhofer (Hrsg.): Gelegenheitslyrik in der Moderne. Tradition und Transformation einer Gattung, Bern 2022 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. N. F. 33), S. 123–162.

Volkhard Wels: „Einleitung. ‚Gelegenheitsdichtung‘ – Probleme und Perspektiven ihrer Erforschung“, in: Andreas Keller u. a. (Hrsg.): Theorie und Praxis der Kasualdichtung in der Frühen Neuzeit, Amsterdam u. New York 2010 (Chloe 43), S. 9–31.