Kollaborative Praktiken in den Künsten der Frühen Neuzeit
Interdisziplinäre Tagung
Heidelberg
09.-11.11.2023
Leitung: Prof. Dr. Christiane Wiesenfeldt und Roman Lüttin M.A., Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
in Verbindung mit Prof. Dr. Nicole Schwindt, Staatl. Hochschule für Musik Trossingen
Künstlerisches Handeln unterliegt durch das Paradigma individueller Autorschaft bis heute zumeist einer individualpoetischen Lesart, obwohl sich kulturelle Akte und Artefakte nur in den seltensten Fällen ausschließlich den Leistungen von Einzelnen verdanken. Obwohl kollaborative Handlungszusammenhänge und kreative Vernetzungen zu allen Zeiten grundlegend für künstlerische Produktions- und Schaffensprozesse waren, ist eine umfassende Auseinandersetzung mit ihnen bis heute nur in Einzelfällen, nicht aber in größeren zeitlichen und fachübergreifenden Zusammenhängen erfolgt. Indem die Tagung kollaborative Praktiken in den Künsten vom 15. bis zum 17. Jahrhundert aus einer interdisziplinären Perspektive befragt, können über die Spezifika der einzelnen Kunstdisziplinen hinaus Gemeinsamkeiten, aber auch Brüche und Kontinuitäten frühneuzeitlichen kollaborativen Handelns sichtbar werden. Entsprechend sollen nicht allein die Resultate von Kollaborationen – ob schriftlich fixiert oder ephemer – im Zentrum stehen, sondern jene Prozesse und Praktiken, die das gemeinsame künstlerische Arbeiten seit dem Spätmittelalter ausmachen. In vier Schritten nähert sich die Tagung ihrem Gegenstand:
Zunächst gilt es, die unterschiedlichen Kontexte künstlerischer Zusammenarbeit in der Frühen Neuzeit auszumachen. Unter welchen disziplinären, institutionellen, sozialen und personellen Voraussetzungen finden Kollaborationen statt? Welche Motive liegen den kollaborativen Aktionen zugrunde, welche Ziele werden damit verfolgt, welche Methoden werden gewählt, welche Arbeitsabläufe etablieren sich? Welche strukturellen Bedingungen befördern bzw. behindern die Zusammenarbeit? Lassen sich unterschiedliche Modelle von Kollaborationen erkennen? Und welche Auswirkungen auf unsere Vorstellungen künstlerischer Kreativität ergeben sich durch die verschiedenen Formen der Kooperation? Inwiefern sind diese Praktiken spezifisch für bestimmte Künste oder historische Zeitabschnitte?
In einem zweiten Schritt sollen die materiellen und immateriellen Spuren künstlerischer Zusammenarbeit thematisiert werden. Wie lassen sich Kollaborationen in den überlieferten Quellenkorpora identifizieren? Wie wird Zusammenarbeit in künstlerischen Kontexten medial realisiert und ggf. auch konzeptionell oder ästhetisch reflektiert? Warum werden Kollaborationen in Artefakten der Frühen Neuzeit mitunter verborgen oder maskiert, andernorts aber ausgestellt oder gar inszeniert? Wann und warum treten welche an einer Arbeit beteiligten Akteure sichtbar hervor oder werden unsichtbar gemacht?
Ein dritter Aspekt betrifft das Verhältnis zwischen kollaborativen Praktiken und Autorschaft: Wer besitzt künstlerische Autorität und genießt Autonomie in kollaborativen Produktionskontexten, und in welchem Grad? Inwiefern wirken sich Praktiken künstlerischer Zusammenarbeit und die Art ihrer Präsentation auf unsere Vorstellungen von solitären und geteilten Autorschaften aus? Und wie sind plurale Autorschaften in einem Zeitabschnitt zu interpretieren, der in vielen Künsten zwar als Konsolidierungsphase des Individualautors und neuzeitlichen Künstlertypus gilt, in dem aber zugleich auch anonyme Überlieferungen eher die Regel als die Ausnahme sind?
Viertens und letztens stellt sich die Frage nach den Wirkungen und Folgen, nach den produktiven und transformierenden Effekten von Kollaborationen: Wie beeinflussen kollaborative Handlungen personelle und institutionelle Netzwerke, künstlerische Transfer- und Rezeptionsbewegungen? Wie konstituieren und verändern sich durch Kollaborationen künstlerische Profile oder Zugehörigkeiten zu sozialen Räumen?
Begleitet wird die inhaltliche Perspektive in allen vier Aspekten stets von der Frage nach dem methodischen Zugriff bei der Untersuchung: Wie kann sinnvoll zwischen den Begriffen Kollaboration, Kooperation, Interaktion und Co-Kreativität differenziert werden? Worin unterscheiden sich diachrone und synchrone Praktiken der Kollaboration? Und welche Zugriffe der Forschung auf einen bereits gut erforschten Raum der Kollaboration – die bildkünstlerische Werkstatt – sind für andere Disziplinen und Modelle der Zusammenarbeit brauchbar?
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Tagungsprogramm
Donnerstag, 9. November 2023
17:30–18:00 Uhr
Christiane Wiesenfeldt (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg)
Begrüßung und Einführung
18:00–19:00 Uhr
Rebecca Müller (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg)
Keynote: Individuum versus Werkstatt? Künstlerische Zusammenarbeit aus kunsthistorischer Perspektive
Freitag, 10. November 2023
Sektion 1 – Auf Papier: Materialien der Kollaboration
10:00–10:45 Uhr
Nicole Schwindt (Staatliche Hochschule für Musik Trossingen)
Komponieren und komponieren lassen – oder: Gab es musikalische Werkstätten?
10:45–11:30 Uhr
Paul Schweitzer-Martin (Ludwig-Maximilians-Universität München)
Materiale Spuren der Kooperation im Inkunabeldruck
11:30–12:15 Uhr
Paul Kolb (KU Leuven)
Collaboration between Composers and Scribes in the Gaffurius Codices
12:30 – Mittagspause
Sektion 2 – Singen, Hören, Schauen: Kollaborative Praktiken
14:00–14:45 Uhr
Margret Scharrer (Universität Bern)
»Pour ung entremés eslevé, […] y fault faire« – kollaborative Prozesse in spätmittelalterlichen Banketten zwischen Burgund und Savoyen
14:45–15:30 Uhr
Philippe Canguilhem (Universität Tours)
Collective compositions? Singing upon the book in the Renaissance as collaborative creation
15:30 Uhr – Kaffeepause
Sektion 3 – Einer oder mehrere? Zuschreibungen von Autorschaft
16:00–16:45 Uhr
Angelika Zirker (Eberhard-Karls-Universität Tübingen)
»We shall [...] appeare all one«: Die Academy von Little Gidding und die Gemeinschaftlichkeit der Textualität als kollaborative Praxis
16:45–17:30 Uhr
Esther Dubke (Hochschule für Künste Bremen)
Anonymus oder Anonymi? Überlegungen zur Bedeutung von Autorenzuschreibung in den Münchner Chorbüchern
Samstag, 11. November 2023
Sektion 4 – Beziehungsreich: Modelle pluraler Autorschaft
10:00–10:45 Uhr
Daniel Ehrmann (Universität Wien)
Autoreffekte. Literarische Produktions- und Publikationspraktiken der frühen Neuzeit zwischen Individualisierung und Kollektivität (Luther, Cranach, Sachs)
10:45–11:30 Uhr
Roman Lüttin (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg)
»Miserere nostri«: Die Cantiones Sacrae (1575) von Thomas Tallis und William Byrd als Modellfall kollaborativen Komponierens
11:30 – Kaffeepause
12:00–13:00 Uhr
Frieder von Ammon (Ludwig-Maximilians-Universität München) und Dirk Werle (Ruprecht-Karls Universität Heidelberg)
Kollaborative Phänomene im Werk Paul Flemings
13:15 Uhr Ende
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TroJa – Kolloquium und Jahrbuch für Renaissancemusik
Als wissenschaftliche Tagungs- und zugleich Veröffentlichungsreihe wurden jährliche Kolloquien zur Renaissancemusikforschung 2001 von Nicole Schwindt an der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen begründet. Zentrale Intention ist es hierbei, Forschungen zur Musik des 15. und 16. Jahrhunderts eine regelmäßige Plattform zu geben. Konzeption und Durchführung der TroJa-Reihe werden aktuell von Antonio Chemotti (Leuven), Katelijne Schiltz (Regensburg) und Nicole Schwindt (Trossingen) verantwortet. Das Kolloquium des Jahres 2023 wurde von Roman Lüttin, Christiane Wiesenfeldt (beide Heidelberg) und Nicole Schwindt (Trossingen) entwickelt. Die Ergebnisse werden in TroJa: Jahrbuch für Renaissancemusik publiziert. Weitere Informationen unter www.troja-online.eu.