Out of the Box! Vom Archiv in die Musikgeschichte

Internationales Symposium, Kunstuniversität Graz (Palais Meran)

Graz, 09.-11.11.2023

Von Ulrike Fischer  – 28.02.2024 | Vom 9. bis zum 11. November 2023 fand an der Kunstuniversität Graz im Rahmen des am Zentrum für Genderforschung und Diversität angegliederten FWF-Projekts „The Musician’s Estate as Memory Storage: Remembrance, Functional Memory and the Construction of Female Professional Identity“ das Symposium Out of the Box! Vom Archiv in die Musikgeschichte statt. Die in sechs themenspezifische Sessions gegliederte Konferenz, konzipiert und organisiert von Projektleiterin Michaela Krucsay und Mitarbeiterin Lucia Agaibi, regte zum interdisziplinären wissenschaftlichen Austausch an und bot somit einen vielseitigen Einblick in den Themenkomplex Archiv und Musikgeschichte.

In der ersten Session, Archives as Institutions, zeigte Vjera Katalinić (Zagreb) anhand von drei exemplarischen Fallbeispielen auf, welche Herausforderungen und Fragestellungen sich in der Praxis hinsichtlich der Archivierung, Aufarbeitung und Katalogisierung unterschiedlicher Quellentypen ergeben. Anschließend stellte Maria Rößner-Richarz (Bonn) in ihrem Beitrag Formen weiblichen Mäzenatentums im Beethoven-Haus Bonn von der Gründung des Vereins 1889 bis zum Ersten Weltkrieg vor. Die Quellenlage des dortigen Archivs gewährt einen umfangreichen Einblick in das mäzenatische Tun von Frauen anhand von Korrespondenzen, Vereinsprotokollen und Mitgliederverzeichnissen.

Bettina Schuster und Felix Dieterle (Wien) eröffneten die zweite Session, die Family Archives & Music Historiography gewidmet war. Die Vorstellung zweier exemplarischer Beispiele von Musikfamilienarchiven veranschaulichte, wie sich das Familiale im Quellenkorpus eines Musikfamilienarchivs abbildet, wie aktive Selbstinszenierung als Familie die Form eines Familienarchivs prägt und inwiefern die Sichtbarkeit von Familienmitgliedern die Musikgeschichtsschreibung beeinflusst. Darauf folgte der Beitrag von Janine Droese (Hamburg), in dem ein achtbändiges Album, welches sich im Nachlass des Grafen Victor von Wimpffen befindet, vorgestellt wurde. Die Vortragende ging u.a. der Frage nach, ob das Album, welches mehrfach umgestaltet und ergänzt wurde, einen weiblichen Blick auf die Musikgeschichte repräsentiert und unter welchen Kriterien die Auswahl und Anordnung der Beiträge stattfand.

Die Keynote von Melanie Unseld (Wien), An Archive of One’s Own? Oder: Wie weit ist Virginia Woolfs Weg in die Geschichtsschreibung?, beendete mit einer grundlegenden Bestandaufnahme offiziell den ersten Symposiumstag. Bis heute ziehen sich bestimmte Bilder und festgelegte Vorstellungen von Frauen durch Musikgeschichte und Musikgeschichtsschreibung: Wenn die Frau als Gegenstand von Kunstproduktion primär als Muse oder Medea auftritt, bleibt wenig Raum für historiografische Narrative, an denen kreative, musikkulturell handelnde oder wissenschaftsproduzierende Frauen teilhaben. Um das bestehende Frauenbild als Gegenstand von Literatur- und Musikgeschichte verändern zu können, gilt es, bestehende und tradierte Bilder der Frauengeschichtsschreibung aufzuzeigen, kritisch zu reflektieren und zu hinterfragen. Das Archiv fungiert hierbei als zentraler Ort, an dem sich entscheidet, wie Geschichtsschreibung in die Zukunft getragen wird.

Inhaltlich ideal mit Unselds Ausgangspunkt Virginia Woolf verband sich das Abendprogramm, ein Besuch des Balletts Orlando (Choreographie: Marguerite Donlon) in der Oper Graz mit dem anschließenden Gesprächsformat „Nachklang“, in dessen Diskussionsrunde auch Michaela Krucsay eingeladen war.

Am Beginn des zweiten Tages stand die Session Reading the Archive. Gundula Wilscher (Krems) beschäftigte sich in ihrem Beitrag mit dem Vorlass des Komponisten Friedrich Cerha. Daraus geht hervor, dass Gertraud Cerha aktiv in alle kulturellen Aktivitäten ihres Mannes involviert war: Im Vorlass zeigen sich nicht nur Gertraud Cerhas organisatorische Leistungen, vielmehr kommt auch ihr selbstständiges inhaltliches Arbeiten zum Vorschein. Darauf folgte Veronika Kusz (Budapest), die den Nachlass des ungarischen Komponisten und Pianisten Ernst von Dohnányi vorstellte, der sich in Ungarn und in den USA befindet. Die Vortragende ging auf Lebensstationen und Werke des Komponisten sowie auf dessen Frauen ein, die sowohl sein Leben als auch die Wahrnehmung von ihm maßgeblich beeinflussten. Sigrid Nieberle (Dortmund) schließlich erläuterte anhand der Quelle der „Concert Reisebriefe“ zu der in Graz geborenen Geigerin Gabriele Hoffmann von Wendheim (1838–1919), wie sich Erkenntnisinteressen, Wissensstände und Forschungsperspektiven mit einem Archivfund verschieben und welche Auswirkungen sich daraus auf den musikgeschichtlichen Kanon ergeben können.

Nach der Mittagspause eröffnete Daniel Kudó (Hamburg) die nächste Session, Shifting Narratives & the Nation. Der Vortragende zeichnete das Werk und den Lebensweg des katalanischen Organisten und Pianisten Pedro Guarro y Torres (1823–1910) nach. Durch aufgefundene Manuskripte und die Rekonstruktion von Reiserouten konnte der Einfluss und die Rolle der nationalen Identität Pedro Guarros erschlossen werden. Patricia Marion Lopez Abrera (Diliman) zeigte in ihrem Beitrag die Herausforderungen auf, die sich bei der Aufarbeitung von historischem Material ergeben. Im Laufe der letzten Jahrzehnte konnten musikalische Werke, die sich vorwiegend in Privatarchiven finden, transkribiert und vergessene Musik rekonstruiert werden, was maßgeblich zur Aufarbeitung kolonialer Vergangenheit beiträgt. Darauf folgte der Beitrag von Maria Teresa Betancor Abbud (Paris), in dem die Geschichte und Entstehung des feministischen Archivs Archivia vorgestellt wurde, das neben schriftlichen auch eine Vielzahl an audiovisuellen Quellen umfasst. Das Archiv, welches 1977 in Rom gegründet wurde, fungiert als feministisches Zeitdokument und Ort weiblicher Geschichtsschreibung.

In ihrem Beitrag zu Ethel Smyth zeigte Marleen Hoffmann (Berlin), wie die autobiografischen Schriften und die Übernahme des Selbstbildes der Komponistin, das diese bereits zu ihren Lebzeiten vermitteln wollte, eine differenzierte Forschung erschweren. Es bedarf einer umfänglichen Quellenrecherche, um das tradierte Narrativ von Ethel Smyth korrigieren zu können.

Im Anschluss fand eine Buchpräsentation des von Christa Brüstle herausgegebenen Buches „Musiker*innen und Musikleben in der Region – Identitäten, tracer und Ressourcen. Blickpunkte East Anglia, Kroatien, Österreich, Schweiz“ (Graz 2023) statt, ehe das Trio Libre in einem von Michaela Krucsay moderierten Konzert kammermusikalische Werke der Komponistinnen Luise Adolpha Le Beau (1850–1927) und Ethel Smyth (1858–1944) aufführte.

Die letzte Session des Symposiums bildete als Methodological Tri-Angle verschiedene Ansätze, sich dem Archiv zu nähern, ab. Orlando Fernão (Aveiro) berichtete von der Sammlung ethnologischer Objekte und audiovisueller Quellen der Ndau (Zentralregion Mozambique), die sich im Staatlichen Museum zu Berlin und dem Grassi Museum (Leipzig) befindet. Um die Bedeutung und Botschaften, die der Sammlung zugrunde liegen, umfassend zu dokumentieren, bedarf es der Expertise von Archivar*innen – noch unabdingbarer aber ist das Wissen der Ndau, um die Bedeutungsebenen der Sammlung vollends entschlüsseln zu können. Francesco Finocchiaro (Mailand) veranschaulichte anhand von konkreten Beispielen, welche Funktion Musik im Stummfilm einnimmt und welche ontologischen Schwierigkeiten und Fragestellungen sich ergeben, wenn Musikstücke, die als Filmmusik fungieren, unterschiedliche filmische Bedeutungsebenen und Narrative einnehmen. Im Rahmen eines Changes-Projekts (Universität Mailand) wurde ein digitales Dokumentationsarchiv entwickelt, das darauf abzielt, jedem Zeugnis die funktionale Rolle zuzuweisen, die es innerhalb der Filmvorführung gespielt hat. Der letzte Vortrag von Ya’qub Yonas Nathem El-Khaled (Zwickau) schließlich verstand das Lautenbuch der Elisabeth von Hessen-Kassel (1596–1625) selbst als Archiv, dessen Erschließung grundlegend neue Einsichten zu pädagogischen, sozialen und aufführungspraktischen Dimensionen des Repertoires ermöglicht.

Den Abschluss des Symposiums bildete eine Roundtable-Diskussion. Unter der Moderation von Nicole K. Strohmann (Kunstuniversität Graz) konnten spannende Einblicke in Forschungs- und Fachbereiche gegeben und Fragestellungen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden. Vjera Katalinić (Universität Zagreb), Elke Hammer-Luza (Steiermärkisches Landesarchiv) und André Doehring (Kunstuniversität Graz) diskutierten u.a. Fragen der Archivwürdigkeit und damit einhergehenden Bewertungen, Kriterien und Auswirkungen, den Wandel der Wertigkeit von Beständen im Laufe der Zeit, Vor- und Nachteile der Digitalisierung sowie aktuelle Digitalisierungsstrategien in Archiven, sowohl den Umgang mit genderspezifischen Beständen als auch Fragen der persönlichen Verantwortung und das Setzen individueller Entscheidungen und die daraus resultierenden Auswirkungen, die in Zukunft den Kanon maßgeblich beeinflussen werden.