Neue An­sätze zur Skizzen­forschung für die Mu­sik des lan­gen 19. Jahrhun­derts

Greifswald, 20.-21.09.2018

Von Susanne Cox, Bonn – 19.03.2019 | Mit der Absicht, neue Diskussionen über die Ziele und Methoden der musikalischen Skizzenforschung anzuregen, hatten Stefanie Acquavella-Rauch und Birger Petersen eine Tagung zum 19. Jahrhundert am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald initiiert. Die Betrachtung der Skizzenforschung aus verschiedenen Perspektiven, etwa der Schriftbildlichkeit oder der digitalen Musikedition, sollte neue methodische Zugangsweisen eröffnen.

Den Auftakt machte Acquavella-Rauch mit ihrem Abendvortrag „Von romantischer Ironie zu ernsthafter Realität. Narrative von Inspiration und Schaffensprozessen“, in dem sie die Erzählung Ritter Gluck (1809) von E.T.A. Hoffmann dem 1962 erschienenen Buch Gespräche mit berühmten Komponisten: Über die Entstehung ihrer unsterblichen Meisterwerke, Inspiration und Genius von Arthur M. Abell gegenüberstellte und damit zwei Möglichkeiten des Erzählens über Schaffensprozesse von Komponisten verglich. Nach diesem Vortrag, der allgemein in das Thema von Kompositionsprozessen einführte, war die weitere Tagung in drei thematische Felder unterteilt. Der erste Komplex beschäftigte sich mit dem musikwissenschaftlich noch wenig erforschten Thema der Schriftbildlichkeit, da unterschiedliche Schriftbilder Zeugnisse verschiedener Arbeitsweisen darstellen können. Julia Ronge stellte in ihrem Referat zur Schriftbildlichkeit bei Ludwig van Beethoven dar, wie sich dessen Skizzierungsweise im Laufe seines Lebens verändert hat. Dabei zeigte sie, welchen Einfluss der Kompositionsunterricht bei Haydn auf die Art der Skizzierung hatte und wie Beethoven in späteren Schaffensphasen den verfügbaren Schreibraum systematisch nutzte und graphisch klar unterscheidbare Abschnitte herstellte, um die Seite übersichtlicher zu gestalten.

Im Anschluss sprach Birger Petersen in seinem Vortrag „Rheinbergers Skizzen. Neue (Be-)Funde zur Orgelmusik“ zunächst über die Bearbeitungen der Orgelsonaten Nr. 2 (op. 65) und Nr. 4 (op. 98) für Klavier zu vier Händen und beleuchtete die Rolle von Rheinbergers Ehefrau Fanny im Bearbeitungsprozess. Für die Bearbeitung beider Sonaten existieren Skizzen und Reinschriften von der Hand Fannys, die belegen, dass sie die Klavierfassungen hergestellt hat, und die später auch von Rheinberger korrigiert wurden. Bei diesen Korrekturen ist allerdings nicht immer erkennbar, ob es sich um die Handschrift des Komponisten oder Fannys handelt. Des Weiteren betrachtete Petersen eine Skizze zum Kopfsatz der Sonate Nr. 4 und machte darauf aufmerksam, dass sich im Anschluss daran eine vollständige Niederschrift der Sonate befindet, was die bisherige Ansicht, dass kein Autograph zu diesem Werk existiere, widerlegt.

Danach gab Marcel Klinke mit seinem Vortrag „Richard Strauss lernt komponieren. Überlegungen zum Verhältnis von Skizze und Reinschrift in den frühesten Werken (TrV 1–105)“ einen Einblick in die Quellen zu den ersten Kompositionen von Strauss. Die im Trenner-Verzeichnis angegebene Chronologie der Frühwerke beruht in vielen Fällen auf Schätzungen. Klinke zeigte exemplarisch, wie durch die genaue Betrachtung und den Vergleich des Schriftbilds in den Manuskripten der Frühwerke präzisere Aussagen zur Datierung getroffen werden können.

Das Thema der zweiten Sektion war die Rekonstruktion des musikalischen Denkens anhand von Lehrkontexten. Das erste Referat in diesem Themenkomplex hielt Stefan König. Er sprach über den Einfluss Hugo Riemanns auf die Entwicklung der Kompositionstechnik Max Regers. Reger nutzte zur Niederschrift seiner autographen Partituren ab einem bestimmten Zeitpunkt zwei verschiedene Tintensorten, um bessere Übersichtlichkeit zu gewährleisten: Er schrieb den eigentlichen Notentext mit schwarzer Tinte nieder und notierte alle zur akzidentellen Ebene gehörenden Zeichen (Dynamikangaben, Phrasierungszeichen etc.) mit roter Tinte. König erläuterte, wann und warum Reger diese Arbeitsweise aufnahm und stellte anschließend den Einfluss dar, den der Unterricht bei Hugo Riemann auf die musikalische Phrasierung des jungen Komponisten hatte.

Danach beschäftigte sich Eike Feß in seinem Vortrag „«... a humble [...] approach toward[s] perfection.» Skizzierung bei Arnold Schönberg in Unterricht und Kompositionspraxis“ mit Schönberg als Kompositionslehrer. Dabei gab er einen Einblick in dessen Lehrwerke Harmonielehre und Fundamentals of musical composition und wies unter anderem auf die darin enthaltenen Ausführungen zum Thema Skizzierung hin. Obwohl sich Schönbergs pädagogische Empfehlungen nicht direkt auf seine Arbeitsweise übertragen lassen, weil der Komponist selbst kein Lernender mehr war, entspricht seine Vorgehensweise, zumindest beim Entwerfen seiner späten Variationszyklen, dem in den Fundamentals Beschriebenen. Dies veranschaulichte Feß an einem Beispiel aus Schönbergs Variationen für Orchester op. 31. Dadurch konnte er zeigen, dass Schönbergs Lehrwerke zum Teil seine eigene kompositorische Arbeitsweise widerspiegeln.

Martin Loeser referierte im Anschluss zum Thema „Musikalische Gattungen, Normen und ihre Skizzen. Überlegungen ausgehend vom Ostseeraum“. Dabei gab er zunächst einen Überblick über den Stand der musikalischen Skizzenforschung im Ostseeraum und stellte fest, dass für die meisten Komponisten dieser Region bisher weder Skizzenforschung noch eine systematische kompositionsgeschichtliche Forschung betrieben wurde. Daneben beschäftigte er sich mit der Frage nach dem Kompositionsprozess im 19. Jahrhundert. Interesse hierfür war im Kontext des Genie-Kults in der breiten Öffentlichkeit nicht vorhanden – stattdessen hielt man an der Vorstellung von göttlicher Inspiration und vom mühelosen Komponieren fest, während Kompositionslehren der Zeit konkrete Arbeitsempfehlungen gaben und den Schreibprozess systematisierten. Des Weiteren gab Loeser zu bedenken, dass sich die kompositorische Arbeitsweise und damit auch Skizzen je nach Gattung unterscheiden und stellte am Beispiel der Balladen Carl Loewes dar, dass auch Improvisationen als Teil des Schaffensprozesses bei der Werkentstehung in den Blick zu nehmen sind.

Zum Abschluss der Sektion sprach Stephan Zirwes zum Thema „Peter Cornelius’ Skizzen als Zugang zum Denken im Kompositionsunterricht“. In seinem Vortrag gab er einen Einblick in den musiktheoretischen Nachlass des Komponisten. Cornelius war ab 1867 Professor für Rhetorik und Harmonielehre an der Königlich-Bayerischen Musikschule. Aus der Zeit seiner Unterrichtstätigkeit ist eine große Zahl handschriftlicher Aufzeichnungen erhalten, die eine Rekonstruktion der Inhalte und Methoden seines Unterrichts ermöglichen. Darunter befinden sich auch Satzübungen, Kontrapunktstudien und Abschriften von Werken anderer Komponisten wie Schubert, Beethoven oder Wagner. In manchen dieser Abschriften reduzierte Cornelius den originalen Notentext auf nur ein Notensystem, in anderen hat er die Werke sogar bearbeitet. Das Abschreiben stellte für Cornelius eine besondere Art des Studierens mit dem Ziel eines tiefergehenden Verständnisses der Musik dar. Auch ist ein Bezug der abgeschriebenen Werke zur kompositorischen und pädagogischen Tätigkeit des Komponisten erkennbar.

Der dritte thematische Block der Tagung stand unter dem Titel „Interdisziplinärer Methodendiskurs“. Eröffnet wurde er von Federica Rovelli, die zum Thema „Die Beethoven-Skizzenforschung zwischen deiktischen Darstellungsstrategien und multiperspektivischen Vermittlungsformen“ referierte. In ihrem Vortrag zeigte sie einige Probleme der Beethoven-Skizzenbuch-Ausgaben auf (zum Beispiel fragmentarischer Zustand sowohl der Skizzen als auch der Manuskripte, Inhomogenität von Editionsrichtlinien, Schwierigkeit der Vermittlung von Schreibprozessen) und stellte im Anschluss Wege vor, wie diese Probleme zukünftig durch digitale Darstellungsformen gelöst werden könnten. Dazu präsentierte sie die bisher im Forschungsprojekt „Beethovens Werkstatt – Genetische Textkritik und Digitale Musikedition“ entwickelten digitalen Vermittlungsformen, die auch neue Möglichkeiten für digitale Skizzenbuch-Editionen eröffnen könnten.

Anschließend sprach Franziska Militzer über „Idiosynkrasie und Schriftlichkeit. Textgenetische Spuren in den Skizzenmanuskripten Max Regers“. Sie stellte am Beispiel des Klarinettenquintetts op. 146 verschiedene Manuskripttypen Regers vor: Zum einen eine Bleistift-Skizze, die den Verlauf der Komposition festhält und andererseits die autographe Arbeitspartitur, die zugleich als Stichvorlage diente. Die deutlichen Unterschiede im Schriftbild weisen auf die unterschiedlichen Funktionen der Manuskripte in Regers Kompositionsprozess hin. Zudem zeigte Militzer Möglichkeiten der Rekonstruktion textgenetischer Prozesse in den Skizzen zum Klarinettenquintett auf und ging der Frage nach, welchen Einfluss die materiellen Gegebenheiten des Notenpapiers auf die Skizzierung haben können.

Abschließend zeigte Eckhard Schumacher in seinem Vortrag „Digitale Literaturwissenschaft – Die Edition von Jugend von Wolfgang Koeppen als Beispiel für neue Ansätze der literaturwissenschaftlichen Skizzenforschung“, wie die textgenetische Edition eines Buches im digitalen Medium präsentiert werden kann. Für Koeppens Roman ist ein umfangreiches Typoskript-Konvolut überliefert, das die Grundlage der textgenetischen Untersuchungen bildete. Dabei wurden die Typoskripte zu jeder Sequenz des Buches, soweit möglich, in eine chronologische Abfolge gebracht. In der digitalen Edition (www.koeppen-jugend.de) ist es möglich, das Faksimile eines Typoskripts und dessen Transkription gleichzeitig zu betrachten. Daneben erhält man Informationen zu Veränderungen auf Wortebene (z. B. Durchstreichung, Einfügung, Ersetzung) und Zeichenebene (benutzte Schreibgeräte, Überschreibung etc.), die mit der Transkription verknüpft sind.

In der folgenden Abschlussdiskussion wurde der Wunsch nach einer zu entwickelnden, gemeinsamen Terminologie für die Skizzenforschung deutlich, wozu das online einsehbare, textgenetische Glossar des Projekts „Beethovens Werkstatt“ einen Ausgangspunkt bilden könnte. In diesem Zusammenhang wurde die Frage aufgeworfen, wie man den Begriff „Skizze“ komponistenübergreifend definieren könnte. Eine künftige Aufgabe der Forschung könnte darin bestehen, die Arbeitsweisen verschiedener Komponisten miteinander zu vergleichen, um Lehrtraditionen und Arbeitsroutinen zu erkennen. Zudem wurde die Schwierigkeit festgestellt, zu definieren, ab welchem Zeitpunkt es sich nicht mehr um eine Skizze handle, sondern der Übergang zur Ausarbeitung der autographen Partitur stattgefunden habe. Ein weiteres Problem stellt die Blickrichtung des Skizzenforschers in Bezug auf den Gegenstand dar: Die Skizzen werden mit dem Endprodukt, dem abgeschlossenen Werk, verglichen. Dies schränkt den Blick ein und führt dazu, dass das Entziffern schlecht lesbarer Skizzen von einer Erwartungshaltung bestimmt ist. Somit könnte es lohnend sein, sich in einer künftigen Tagung auch mit den Skizzen, die nicht in einem Werk aufgegangen sind, zu beschäftigen. Mit dem Fazit, dass es im Skizzenbereich noch viel zu erforschen gibt und die bisherigen Erkenntnisse in Bezug auf die Schaffensprozesse verschiedener Komponisten miteinander verknüpft werden müssen, endete die ertragreiche Tagung.