Workshop »Zur Materialisierung musikalischer Zeit seit 1900«

Musik als Zeitkunst verlangt, über Zusammenhänge von »Musik« und »Zeit« in regelmäßigen Abständen zu kommunizieren: künstlerisch-praktisch ebenso wie wissenschaftlich-theoretisch. Eine veränderte Zeitperspektive ließe sich gegenwärtig für die (Musik-)Wissenschaft und ihre Zugänge neu diskutieren: Man denke an die Datengewinnung aus verlangsamt abgespielten Tonträgern, quantitative Datenbankrecherchen über unterschiedlich weite Zeiträume, interaktive Lese- und Erfahrungsmöglichkeiten mit digitalisierten Quellen oder auch Formen musikalischer Zeitlichkeit in der zeitgenössischen Musik, die sich mit den eingeübten Begriffen nur unzureichend greifen lassen. Offenkundig muss die musikalische Zeit auch in ihrer wissenschaftlichen Rezeption als historisch veränderliche Größe verstanden werden.

Der Zeitraum um und nach 1900 wiederum erscheint für diese Forschungsansätze besonders fruchtbar, vollzieht sich hier doch auf verschiedenen Ebenen eine neuartige Materialisierung von Zeit (bzw. Zeitästhetik): Medienarchäologisch als Möglichkeit des wiederholten Abspielens von Klängen (sodass Speicherkapazität zum neuartigen Zeitmaß einer musikalischen Ästhetik wird), kompositionsgeschichtlich durch die Überwindung tonaler und formaler Konventionen, fachgeschichtlich als Grundlagenforschung in der Wahrnehmungspsychologie und »vergleichenden« Musikwissenschaft, diskursbezogen als Blütephase überraschend populärer (Henri Bergson) wie hermetischer (Edmund Husserl) zeitphilosophischer Großentwürfe.

Vor diesem Hintergrund ist es Ziel des Workshops, die »musikologische Gretchenfrage« nach aktuellen Verhältnissen zwischen Musik und Zeit in möglichst grundlegender Form zu stellen – insbesondere sollen Qualifikationsarbeiten und Forschungsprojekte aus verschiedenen Teilbereichen der Musikforschung vernetzt werden. Für eine multiperspektivische Erforschung einer »Materialisierung von Zeit seit 1900« erscheinen u. a. die folgenden Forschungsfelder bzw. -fragen von besonderer Relevanz:

1) Rezeptionsästhetik: Zeit als publizistischer Topos

Zeitphilosophie steht in dem schlechten Ruf, unhandlich und unverständlich zu sein. Vor diesem Hintergrund scheint die Popularität und Breitenwirkung verschiedener »Überbau«-Theorien der (musikalischen) Zeit bis in die »Basis« von Musikjournalismus und Konzertkritik, oder auch die Rezeption in den »energetischen« Musiktheorien erklärungsbedürftig. Durch welche Mediatoren und in welchen Adaptionen wurden verschiedene Zeittheorien im deutschsprachigen Raum »musikalisch« rezipiert? Wie lassen sich die auffälligen Schnittmengen zwischen Wissenschaft und Kunst (z. B. Robert Musil) gerade im Bereich von Zeitästhetik und psychologischer Gestalttheorie erklären?

2) Interpretationsforschung: Zeit als performative Praxis und performatives Erlebnis

Chronometrische Zeit bildet in der Interpretationsforschung einen zentralen Ergebnisbezug: Tempo-
oder Dauernmessungen grundieren nahezu zwangsläufig die quantitativen wie qualitativen Auswertungen. Für Messprozeduren der »performance studies« stellt sich folglich die Frage nach möglichen Anschlussoptionen und notwendigen Abgrenzungen zu musikbezogenen Zeitästhetiken: In welcher Weise kann die »gemessene Interpretation« auf einem Tonträger in jene ontologischen  Zeithorizonte eingeordnet werden, die ästhetisch bislang eher für eine werkzentrierte Kompositions- und Rezeptionsgeschichte aufgestellt wurden? Und in welcher Weise können bzw. müssen die (gleichzeitigen) zeitphilosophischen Popularisierungen als relevanter Einflussfaktor der auf (frühen) Tonträgern gespeicherten Klänge mitberücksichtigt werden? Lassen sich verschiedene musikalische Interpretationsmodi in Bezug auf ihre Zeitlichkeit unterscheiden? Und lässt sich subjektive Zeiterfahrung beim Musizieren sowie ihre »Synchronisation« beimgemeinsamen Musizieren (Alfred Schütz) mit quantitativen Methoden erfassen?

3) Mediamorphosen: Zeit als »äußerer Sinn«

Musikalische Zeit wird in neuer Weise nach 1900 zu einer konkreten haptischen bzw. taktilen Erfahrung: Dies gilt im Alltag, wenn Plattenseiten alle wenige Minuten gewechselt werden müssen, Phonographen durch Kurbeln ins richtige Tempo gebracht werden (man denke an Thomas Manns Der Zauberberg als bekannteste »zeitästhetische« Beschreibung derartiger Aspekte); es gilt auch ideengeschichtlich für Experimente, in denen Zeitabläufe im Labor durch Rußpartikel, Momentfotografie etc. sichtbar gemacht werden sollen. In welcher Form haben wissenschaftliche Zeitapparaturen auf künstlerische Vorgänge
(in-)direkten Einfluss genommen (oder umgekehrt)? In welcher Form sind Musikdarstellungen in Literatur und Film durch diese neuen Formen der Materialisierung von Zeit mitgeprägt?

Insbesondere seit der Mitte des Jahrhunderts verweisen neue musikalische Erscheinungsformen wie Freie Improvisation, Tonbandmusik und Klanginstallationen zudem darauf, dass die vorherrschende Konzeptualisierung des musikalischen Werkes als »quasi-zeitlich« (Roman Ingarden) oder »allographisch« (Nelson Goodman) kritisch hinterfragt werden muss. In welcher Weise trug die Avantgarde dazu bei, die genannten Dichotomien, Ontologien oder sogar Ideologien des Zeitverständnisses auf- oder abzulösen?

4) Modernekritik: Zeit als »Ideologie der Innerlichkeit«

Unzweifelhaft ist gerade die Idee einer »immateriellen« Zeit eine der intellektuellen Materialisierungen von Zeitlichkeit um und nach 1900. Das Konzept einer für alle Menschen und Räume gleichartigen Zeit besitzt Voraussetzungen in der technischen Moderne der Jahrzehnte vor 1900: in der neuartigen Einheitlichkeit der Zeit von Eisenbahnfahrplänen, Kirchturmuhren oder Aufmarschplänen. Auch diese »Zeitmesser« wären auf ihre musikhistoriographische Relevanz zu befragen. Zugleich ist zu diskutieren, wie Dichotomien von merkantiler Äußerlichkeit und musikalischer Innerlichkeit, von beschleunigter Gegenwart und zeitenthobener Ewigkeit in Konzeptionen der musikalischen Zeit auch eine Ideologieanfälligkeit z. B. für antisemitische, rassistische oder kolonialistische Stereotype bedingen.

5) Typologien »intensiver« und »extensiver« Zeit

Theodor W. Adornos Unterscheidung eines »intensiven« und »extensiven« Zeittypus ist erst durch die posthum publizierten Fragmente zur Reproduktionstheorie und zur Beethoven-Monografie breiter rezipiert worden; dennoch erweist sich das Konzept gegenwärtig als unverzichtbares »Toolkit« für musikästhetische und -analytische Forschungen. Überlegungen zu Adornos Zeittypologie können einen Fluchtpunkt für Konzepte zur Materialisierung von Zeit bilden. Gibt es weitere Anschlussoptionen für diese Zeittypologie? Lassen sich anschließend an Adorno etwa auch »intensive« und »extensive« Medien oder Modi der musikalischen Interpretation unterscheiden? Umgekehrt wäre nach den Voraussetzungen der Zeittypologie Adornos zu fragen: Ist der »extensive« Zeittypus ein beigeordneter Modus zur Rechtfertigung eines »intensiven« Zeitideals, oder ist der »extensive« Zeittypus eine radikale Alternative zu einer modernistischen, fortschrittsorientierten Zeiterfahrung?

Die Vorschläge sollten nach Möglichkeit auf bis zu 30 Minuten für Wortbeiträge (20 Min. Präsentation zzgl. Diskussion) bzw. 90 Minuten für Panels oder Workshopanteile ausgelegt sein.

Der Workshop findet am 26. und 27. September 2025 online statt. Vorschläge für Beiträge aller Art (Vorträge, Projektpräsentationen, Diskussionspanel, gemeinsame Arbeit am Gegenstand) in Deutsch oder Englisch bitte bis 31. März 2025 an julian.caskel@folkwang-uni.de

Anschließend an den Workshop soll 2026 in Kiel ein öffentliches Symposion zur Thematik inkl. Konzertreihe in der künstlerisch-wissenschaftlichen Reihe »SINNE | SINN« stattfinden. Eine anschließende Publikation aller dort präsentierter und weiterer ausgewählter Beiträge ist geplant.

Call for Papers

Typ: Veranstaltung

Workshop »Zur Materialisierung musikalischer Zeit seit 1900«

Veranstalter*innen:
Julian Caskel / Joe Reinke / Frithjof Vollmer

Deadline:
31.03.2025

online

26.09.2025

bis 27.09.2025